Der Mann, der wirklich liebte
Gestalt, es war eine grauhaarige Ärztin, die ihm das Klemmbrett mit den ausgefüllten Fragen wieder abnehmen wollte.
Zu seiner Überraschung setzte sie sich kurz neben ihn auf die braune Ledercouch.
»Sie müssen jetzt ganz stark sein«, sagte sie mit rauer Stimme. Sie roch nach Rauch.
Ihre Augen waren von roten Äderchen durchzogen, sie sah müde und überarbeitet aus.
»Was ist mit meiner Frau?«, krächzte Röhrdanz.
»Die Kollegen versuchen zu retten, was zu retten ist«, antwortete die Ärztin mit der Reibeisenstimme.
»Was bedeutet das?«
»Können Sie irgendjemanden anrufen, der Ihnen hier Beistand leistet?«
»Beistand? Wird sie … sterben?«
»Wen können Sie anrufen?«
»Ich … ich weiß nicht. Meine Schwiegermutter hat die Kinder …«
»Sie sollten hier nicht alleine warten.«
»Ich könnte einen Freund anrufen, der wohnt nicht weit von hier …«
Die Ärztin drückte seine Hand, während sie sich eilig wieder erhob. »Tun Sie das.« Sie zeigte auf einen Münzautomaten hinten an der Wand. »Rufen Sie ihn an. Er soll Zeit mitbringen.«
Mit diesen Worten verließ sie ihn. Bereits im Weggehen griff sie in die Kitteltasche, suchte nach Zigaretten und Feuerzeug. Sie schien den Glimmstängel jetzt ganz dringend zu brauchen.
Röhrdanz stützte sich schwer auf die Sofalehne, um seinen Beinen das Aufstehen zu ermöglichen.
Bedrückt schlich er sich zum Telefon. Es ist was passiert, es ist was passiert, es ist was passiert. Das muss ich jetzt irgendwie sagen. Und sonst nichts.
Die Münzen wollten nicht in den Schlitz fallen, so sehr zitterten seine Finger. Als sie endlich doch hineinrutschten, tat ihm das klirrende Geräusch so furchtbar in den Ohren weh, dass er zusammenzuckte. Einen Kloß von der Größe eines Tennisballs hinunterschluckend, erklärte er seinem ahnungslosen Freund Thomas: »Es ist was passiert. Du musst sofort kommen. Es geht um Angela. Sie ist … krank. Sehr krank. Mehr weiß ich nicht.«
Welche Worte er wählte, hatte er schon vergessen, kaum dass sie ausgesprochen waren.
Danach schleppte er sich zurück zur Sitzgruppe. Die Zeitungen, die dort auslagen, ignorierte er, genauso gut hätten es chinesische Bedienungsanleitungen sein können. Sie überstiegen sein Fassungsvermögen, und so starrte er einfach nur Löcher in die Luft.
Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen, wie oft er sich zur Eingangstür umgedreht hatte, die sich immer wieder mit einem kalten Luftzug automatisch öffnete. Doch irgendwann war das vertraute Gesicht seines Freundes aufgetaucht.
Röhrdanz schloss dankbar die Augen. Sofort kamen ihm die Tränen. Er spürte, wie Thomas sich neben ihm niederließ, spürte seine Hand auf der Schulter.
Jetzt war er nicht mehr mutterseelenallein.
5
Es mussten wohl einige Stunden vergangen sein. Röhrdanz hatte seinen dritten oder vierten schwarzen Kaffee aus dem Pappbecher in sich hineingeschlürft, den Thomas ihm vom Automaten geholt hatte - kein Wunder, dass ihm mittlerweile speiübel war. Aber wenigstens war Röhrdanz jetzt hellwach. Der Zustand des Vorsichhindämmerns war vorüber, bestimmt schon zum zehnten Mal schilderte er Thomas, wie sich alles zugetragen hatte.
Auch Thomas’ Bemühungen, von vorbeieilenden Ärzten oder Schwestern eine Auskunft über Angelas Zustand zu erhalten, waren allesamt gescheitert. Man hatte seine Fragen kurz und bestimmt abgeblockt. Doch die unsicheren Blicke der Angesprochenen sprachen Bände. In ihren Augen stand die nackte Panik.
Es war eine Katastrophe.
»Mein Gott, wenn sie stirbt! Wenn meine Angela stirbt! Bitte tu mir das nicht an!«
Manchmal schrie er es, manchmal flüsterte er es nur. Er drohte wahnsinnig zu werden. Röhrdanz wiegte seinen Oberkörper hin und her.
»Michael! Du musst die Nerven behalten. Sie stirbt nicht.« Thomas legte seine Hand auf Röhrdanz’ Schulter und zwang ihn, mit dem Geschaukel aufzuhören. »Sie
ist jung und robust, sie werden ihr helfen, so gut sie können! Wir leben nicht mehr in der Steinzeit, als die Leute an einer kleinen Infektion gestorben sind wie die Fliegen!«
»Es ist etwas ganz Schlimmes, etwas Entsetzliches, schau doch nur, wie sie alle gucken«, wimmerte er.
Röhrdanz verschränkte die Arme vor der Brust und fing wieder an, sich hin und her zu wiegen, wie ein Kind, das vor Angst nicht mehr aus noch ein weiß.
»Reiß dich zusammen, Mann! Was hilft das Angela, wenn du hier durchdrehst?«
»Keiner traut sich, mir etwas zu sagen, Thomas!«
»Da! Es tut sich was!«
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