Der Mann, der wirklich liebte
vorsichtig hochgehoben. Es roch nach Lavendel, nach Frühling, nach Angela.
Angela hatte genau das andere genommen, es lachend angezogen und gesagt: »Das ist doch total out! Wo bleibt denn da dein modisches Gespür? Wolltest du deine Frau wirklich so rumlaufen lassen?«
Sie hatte vor diesem Spiegel hier gestanden, sich das
lange seidige Haar gebürstet und mit ihrem Lippenstift einen Kussmund auf dem Glas hinterlassen.
Nun lag sie da. Einen Meter vom Spiegel entfernt. Und starrte mit offenem Mund an die Decke. Ihr Lippenstiftabdruck war immer noch schwach zu erkennen. Er hatte ihn nie weggewischt.
Um halb acht standen zwei kräftige Sanitäter vor der Wohnungstür: Mit Röhrdanz’ und Olivers Hilfe schleppten sie Angela das Treppenhaus hinunter.
»Zu-gleich! - Und rechts und Vorsicht! Das Geländer! Jetzt du, Oliver, hinten hoch, vorne waagerecht, und zu-gleich! Erste Stufe, habt ihr’s? Nächste Stufe, noch drei, bis zum Absatz, dann Pause, verschnaufen, geht’s? Und zu-gleich … Vorsicht, sie ist doch kein Klavier! Achtung, nicht an die Wand stoßen …«
Das Keuchen und Ächzen der schwitzenden Männer begleitete Angela für die nächste halbe Stunde. Millimeterweise balancierten die vier ihre kostbare Fracht nach unten. Die Nachbarn im Mietshaus öffneten neugierig die Tür, die meisten warfen sie unwillig wieder zu. Was für ein Theater das wieder war! Nur an den Wochenenden war Ruhe im Treppenhaus.
Die Wochenenden waren grausam, denn da wurde Angela nicht abgeholt.
Da lag sie 24 Stunden in ihrem Bett und starrte an die Decke. Und musste gefüttert, gewaschen, gedreht, entschleimt, gepflegt, gesäubert, getröstet und unterhalten werden. Bei Regen und bei Sonnenschein. Von einem alleinerziehenden Vater. Röhrdanz und die Kleinen konnten die Wohnung an solchen Tagen nicht verlassen.
28
»Also eines muss der Neid Ihnen lassen, Röhrdanz: Sie sind der einzige Ehemann, der seine Frau täglich besucht!«
Dr. Roth hielt Röhrdanz die Tür auf, um ihn mitsamt dem Rollstuhl und seiner Frau passieren zu lassen. »Jede Mittagspause des vergangenen Jahres sind Sie hier aufgekreuzt, Hut ab, guter Mann!«
»Aber das ist doch selbstverständlich …« »Mitnichten, Herr Röhrdanz. Mitnichten. Die anderen Ehepartner meiner Patienten kommen oft wochenlang nicht. Aber Sie kommen immer. Respekt!«
»Ich glaube einfach, dass Angela mich braucht«, antwortete Röhrdanz schlicht, während er den Rollstuhl in den Lift schob, der sie zur Unterwassergymnastik bringen würde. »Sie würde das für mich auch tun.«
»Sie macht jedenfalls enorme Fortschritte. Haben Sie gemerkt, dass sie manchmal schon verständliche Silben sprechen kann?«
»Ja, klar. Sie sagt ›Bee‹ für ›Baby‹, ›Ee‹ für ›essen‹ und ›au‹ für Schmerzen. Ich kann sie sehr gut verstehen.«
»Auch die Füße hat Ihre Frau schon bewegt«, fuhr Dr. Roth fort. »Die Stehübungen an der Stange können bald beginnen. Sie ist unglaublich motiviert, und ich bin sicher, das liegt an Ihnen. Sie weiß, dass sie sich auf Sie verlassen
kann. Übrigens können Sie den Gang zur Toilette jetzt probieren. Wir haben mit ihr den Schließmuskel trainiert.« Der Arzt nickte Röhrdanz aufmunternd zu und ließ ihm mit dem Rollstuhl den Vortritt. »Jedenfalls hat Ihre Frau ein ganz normal ausgeprägtes Empfinden, NICHT WAHR, FRAU RÖHRDANZ?«
»Nur schade, dass sie nie lacht«, erwiderte Röhrdanz. Er beugte sich trotz seiner heftigen Rückenschmerzen vor und strich seiner Frau über das immer noch starre Gesicht. Ihre Augen waren glasig, der Mund war zwar nicht mehr so weit aufgerissen, aber bewegen konnte sie ihn immer noch kaum. Speichel troff heraus, und Röhrdanz wischte ihn mit einer selbstverständlichen Handbewegung weg.
»Sie hat früher so gern gelacht. Und mich auch ziemlich oft ausgelacht.« Er sah Angela direkt in die Augen: »Sogar auf unserer Hochzeit hast du mich ausgelacht. Weil ich so verkatert war. Bestimmt hatte ich schrecklichen Mundgeruch bei ›Sie dürfen die Braut jetzt küssen‹.«
»Aaah«, machte Angela.
»Und das sagst du mir erst jetzt?«, entrüstete sich Röhrdanz. Dann lachte er aus vollem Hals.
»Auf Wiedersehen, Doktor, schönes Wochenende!«
Dr. Roth schüttelte bewundernd den Kopf, als sich die Fahrstuhltür schloss: »Was für eine Liebe«, murmelte er, fast neidisch. »Was für eine große Liebe.«
» A lso, mein Schatz, wenn du so weit bist, versuchen wir das mit der Toilette.«
Röhrdanz hatte nun
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