Der Mann, der wirklich liebte
küsste sie auf beide Wangen. »Na, nun heulen Sie doch nicht, Mädchen. Sie sollten jubeln und lachen! Und wissen Sie, wem Sie das alles verdanken, Sie verrückte Nudel, Sie? Dem da!«
Professor Leyen zeigte lachend auf Röhrdanz, der Angela unauffällig stützte, damit sie den guten Doktor nicht zu Fall brachte. »Der war ja wirklich unbelehrbar! Nee, hat er gesagt, hier wird nix abgestellt, meine Frau ist schwanger. Und davon hat er sich keinen Millimeter abbringen lassen! Alle meine Kollegen und alle Schwestern reden immer noch von einem Wunder!«
Vorsichtig führten Arzt und Gatte ihre Lieblingspatientin zurück zum Rollstuhl und setzten sie behutsam hinein.
Sie betrachteten sie wie einen seltenen Schmetterling.
»Wir alle hielten sie damals für so gut wie tot«, raunte Professor Leyen ungläubig.
»Tote kriegen keine Kinder«, antwortete Röhrdanz sachlich. »Sehen Sie selbst: Inzwischen kann sie schlucken und wieder normal essen, macht große Fortschritte beim Sprechen, und wenn das so weitergeht, wird sie auch bald wieder richtig laufen.«
Dagegen wusste der Professor nichts einzuwenden.
Die beiden Jungen tobten besonders wild im Garten herum. Sie hatten schon viel von dem berühmten Arzt gehört, der ihrer Mutter und natürlich Patrick das Leben gerettet hatte, und wollten ihm nun irgendwie imponieren. Denise drückte sich verlegen an der Terrassentür herum. Sie war noch immer nicht über den Verlust ihres Hundes hinweg, und natürlich gab sie insgeheim ihrer Mutter die Schuld dafür.
»Nun kommen Sie doch erst mal rein, Doc«, sagte Röhrdanz verlegen. »Wir haben einen Kuchen gebacken - oder es doch wenigstens versucht …«
Es war Muttertag, und Angela hatte sich einen besonderen Gast gewünscht: »Proh … eiiieeee!« Professor Leyen.
Dieser kam nur zu gern und war nicht nur mit einem Blumenstrauß bewaffnet, sondern hatte sich auch richtig in Schale geworfen.
»Wo ist denn unser Wunderkind?«
»Da.« Hoch oben auf dem Klettergerüst hockte der kleine Bursche.
»Der da?« Professor Leyen war beeindruckt.
»Kaum zu glauben, was?« Röhrdanz errötete und rückte mit hastigen Bewegungen die Kaffeetassen zurecht. »Denise, jetzt hilf mir doch mal! Hol schnell noch die Kuchengabeln!«
Denise schlich wortlos davon.
»Wir haben ihm alle keine Chance gegeben.« Der Professor schüttelte den Kopf. »Ihm nicht und Ihrer Frau auch nicht.«
»Tja …« Röhrdanz war sichtlich überwältigt. Auf diesen Moment hatte er lange gewartet.
»Aber Sie waren ja nicht unterzukriegen. Geht nicht, gibt’s nicht, das waren Ihre Worte.«
»Sind sie auch heute noch. Ich durfte sie nicht gehen lassen«, antwortete Röhrdanz. »Sie ist doch die Mutter meiner Kinder!«
In diesem Moment kam Denise wieder herein und knallte wortlos die Kuchengabeln auf den Tisch.
A ls Philip sechs wurde und in die Schule kam, holte Röhrdanz seinen Sohn wieder nach Hause.
Helga tat sich schwer, den Jungen wieder herzugeben, denn sie hatte sich an ihn gewöhnt.
»Er ist doch mein Kind«, weinte sie, als Röhrdanz ihn in sein Auto setzte. »Ihr könnt das doch gar nicht schaffen!«
»Bitte versteh mich, Helga, er gehört doch nach Hause«, sagte Röhrdanz unsicher. »Wir sind dir sehr dankbar
für das, was du in den letzten Jahren auf dich genommen hast, aber er wird dort eingeschult, wo wir wohnen.«
Helga weinte bitterlich, als er mit Philip davonfuhr, und er fragte sich, ob seine Entscheidung richtig war.
Aber Angela hatte immer wieder nach ihm gefragt, und er hatte ihr versprochen, den Jungen zurück nach Hause zu holen, sobald sie wieder ein paar Schritte gehen konnte.
Philip gehörte doch zu seiner Mutter! Auch seine Geschwister fehlten ihm. Wie sollte man auch vor dem Jungen rechtfertigen, dass ausgerechnet er, der Mittlere, aus dem Familienkreis »entfernt« worden war?
Nein, Röhrdanz war sich ganz sicher, das Richtige zu tun.
Dem Sechsjährigen war der Anblick seiner Mutter inzwischen vertraut, und er fürchtete sich nicht mehr vor ihr. Stolz saß er mit seiner Schultüte auf ihrem Schoß, als Röhrdanz den Rollstuhl in die Aula schob, wo sich alle Schulanfänger mitsamt ihren Eltern versammelt hatten.
Natürlich gafften alle zu ihnen herüber, aber Röhrdanz war es gewohnt, mit seiner kinderreichen Familie und seiner sichtbar behinderten Frau angestarrt zu werden.
Es bringt ja nichts, sich zu verstecken, ging es ihm durch den Kopf. Wir sind eben so.
Die größten Sorgen machte sich Röhrdanz um Denise.
Weitere Kostenlose Bücher