Der Mann, der wirklich liebte
Das Mädchen kapselte sich immer mehr ab. Ihr war so ein Auftritt in der Öffentlichkeit sichtlich peinlich. Sie drückte sich errötend hinter dem Rollstuhl herum und konnte den vielen Blicken nicht lange standhalten.
Irgendwann war sie im Gewühl der Kinder verschwunden.
Eigentlich gehört sie wirklich zu einem Jugendpsychologen, dachte Röhrdanz, als er ihr Fehlen bemerkte. Aber wie soll ich das auch noch bewältigen? Denise würde es schon irgendwie schaffen. Das mit dem Hund hatte sie ja auch überwunden. Letztlich. Sie war zäh.
Schon früh suchte sich das Mädchen andere Bezugspersonen, aber ihre Bindungen hielten nie lange. Im Kindergarten hatte sie sehr an ihrer Betreuerin gehangen, später an der Mutter einer Freundin. Nach der Schule war sie oft mit zu einer anderen Familie gegangen, wo sie auch Mittagessen bekommen hatte, bis die Freundin eifersüchtig geworden war und sie im Streit weggeschickt hatte. Das Mädchen war tief verletzt. Ständig wurde es zurückgewiesen, nie stand es im Mittelpunkt. Aber Röhrdanz hatte keine Kraft mehr für ihre Zicken.
Verärgert rannte er durch die ganze Schule. Seine Söhne saßen schon abfahrbereit auf Angelas Schoß, er hatte den Rollstuhl bereits nach draußen geschoben.
Alle Eltern und Kinder bedachten das seltsame Bild mit argwöhnischen Blicken. »Die Monster-Mutter«, wisperte es aus allen Ecken. Und »Die armen Kinder!«
Röhrdanz wurde immer ungehaltener, je länger seine Suche nach der davongelaufenen Denise dauerte. Schließlich fand er sie im Geräteschuppen der Turnhalle, apathisch auf einer Matte liegend.
»Da bist du ja, wieso versteckst du dich? Ich hab dich in der ganzen Schule gesucht!« Ungeduldig zog Röhrdanz seine Tochter am Arm in die Höhe.
»Weil alle die Mama anstarren. Das ist mir peinlich. Au! Du tust mir weh!«
»Komm jetzt, wir müssen nach Hause«, schimpfte Röhrdanz. »Beeil dich! Die Mama muss auf die Toilette.«
»Warum muss sich immer alles um die Mama drehen!« Denise stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Die Mama ist mir einfach peinlich!«
»Sag das nie wieder!« Röhrdanz starrte seine Tochter böse an. »Du weißt genau, dass die Mama nichts dafür kann. Komm jetzt endlich!«
Unter den Augen ihrer Klassenkameraden wurde Denise von ihrem Vater ungeduldig aus der Schule gezerrt.
»Denise muss zu ihrer Monster-Mutter!«, rief ein Mädchen gehässig hinter ihnen her. Das schreckliche Wort, das nun die anderen Kinder kichernd wiederholten, hallte ihnen noch lange in den Ohren.
Ein gutes Jahr später, es war wieder Ende August, begleiteten sie Patrick, ihren Jüngsten, zum ersten Schultag. Der Kleine war stolz wie Oskar, die Schultüte war fast größer als er selbst. Mit leuchtenden Augen schritt er vor seinen Eltern und Geschwistern her.
Der eigentliche Grund, stolz zu sein, war jedoch, dass Angela nicht mehr im Rollstuhl saß. Am Arm ihres Mannes setzte sie humpelnd einen Fuß vor den anderen.
Fast sieben Jahre nach ihrem plötzlichen Fall ins Koma kämpfte sie sich wieder aus eigener Kraft vorwärts. Natürlich war der Anblick dieser Frau, die sich mit weit ausholenden Bewegungen fortbewegte, immer noch Grund genug für alle herbeiströmenden Erstklässler und
deren Eltern, sie ungeniert anzustarren. Es wurde getuschelt und gemurmelt: »Da ist die Frau, die im Koma lag.« - »Der Kleine wurde im Koma geboren.« - »Nicht vorzustellen, was dieser Mann mitgemacht hat.«
Röhrdanz sah, dass die zwölfjährige Denise die vielen Seitenblicke nach wie vor schwer ertrug. Mit hochrotem Kopf stand sie das qualvolle Spießrutenlaufen durch. Als sie während der Feierlichkeiten in der Aula im Schulchor mitsang, mied sie bewusst den Blick ihrer Eltern. Röhrdanz wusste, wie peinlich es Denise war, mit ihrer Mutter gesehen zu werden, aber dulden wollte er es nicht.
Wenige Wochen zuvor waren sie alle zusammen zum ersten Mal in Urlaub gefahren, nach Holland, ans Meer. Es war richtig schön gewesen, denn es war ein heißer, trockener Sommer, und Angela hatte die meiste Zeit mit den beiden Jungs im Sand gesessen. Röhrdanz war überglücklich gewesen, dass er seine ganze Familie endlich wieder um sich versammelt hatte und seine Frau halbwegs gesund geworden war. Doch dann hatten sie einen gemeinsamen Spaziergang an der Strandpromenade gemacht. Als ihnen eine Frau mit extrem vorstehenden Zähnen und einem Gesicht wie ein aufgeplatztes Schlauchboot entgegenkam, machte Röhrdanz Angela gegenüber eine entsprechende Bemerkung.
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