Der Mann, der wirklich liebte
ihre Tochter trösten, aber Denise war noch nicht bereit, sich ihrer Mutter wieder zuzuwenden. Schließlich war es Mamas Schuld, dass der kleine Hund gehen musste.
»Ja, da gibt es ein anderes Mädchen«, sagte Röhrdanz schließlich.
Angela wimmerte.
Aber Röhrdanz zog Denise lieber den Zahn mitsamt seiner Wurzel, auch wenn es im Moment unglaublich wehtat. Alles war besser, als dem Kind Hoffnung auf ein Wiedersehen zu machen.
»Das andere kleine Mädchen hat Bessy mit nach Hamburg genommen. Das ist ganz weit weg. Wir können Bessy nicht besuchen. Du kannst Bessy aber ein Bild malen und ihr einen Brief schreiben. Den schicken wir dann nach Hamburg.« Röhrdanz nahm das Füttern seiner Frau wieder auf.
Denise rannte laut weinend aus der Küche. Dann knallte ihre Zimmertür.
Angela wandte sich ab. Sie fühlte sich entsetzlich schuldig.
A ngela traute sich tagsüber nicht unter die Leute, denn ihre Gesichtslähmung ließ sie für Außenstehende Furcht erregend aussehen. Sie wusste, wie sie auf andere Menschen wirkte. Oft waren fremde Kinder erschrocken vor ihr davongelaufen. Und wenn sie morgens neben
dem Krankenwagen auf ihre Abholung wartete, hatten auch vorübereilende Erwachsene sie entsetzt angestarrt. Angela, die früher so gern unter Menschen und wegen ihres bezaubernden Lachens so beliebt gewesen war, Angela, die so grazil und anmutig durchs Leben gesprungen war, hatte sich in eine einsame, entstellte, menschenscheue Person verwandelt. Nichts in ihrem Gesicht deutete auf eine menschliche Regung hin, ob sie sich nun freute oder über etwas staunte, ob sie traurig war oder neugierig, deprimiert oder überrascht: Ihre Augen waren immer noch starr nach oben gerichtet, und ihr Gesicht wirkte wie eine Maske.
Zum Glück waren ihre eigenen Kinder den Anblick gewohnt, sie hatten ihre Mutter ja gar nicht anders in Erinnerung. Denise hatte sich noch mehr in sich zurückgezogen. Oft lag sie apathisch auf ihrem Bett. Überall an den Wänden hingen selbst gemalte Bilder von Bessy, mit denen Denise oft stille Zwiesprache hielt.
Abends, wenn es draußen dunkel war und die Kinder längst in ihren Betten schliefen, schob Röhrdanz seine Frau im Rollstuhl durch die stillen Vorstadtstraßen.
Lallend gab sie Röhrdanz zu verstehen, wohin sie auf ihren nächtlichen Spaziergängen gebracht werden wollte: »Einkaufszentrum!«
Typisch Frau, dachte Röhrdanz dann im Stillen, und er musste sogar grinsen. Wenn sie wieder Schaufenster gucken will, dann geht es mit ihr aufwärts.
Im Schein der erhellten Schaufenster, in denen die elegant gekleideten Puppen standen und ihnen aus leblosen Augen entgegenstarrten, zogen sie um die Geschäfte,
und Angela versuchte einen Blick auf die neue Sommermode zu erhaschen, die aber auch dieses Jahr wieder ungetragen an ihr vorbeiziehen würde.
Seit vier Jahren hatte sie kein hübsches Sommerkleid mehr angehabt, seit vier Jahren waren die beiden nicht mehr Mann und Frau gewesen. Das letzte Mal, dass wir uns geliebt haben, dachte Röhrdanz sehnsüchtig, während er seine Frau durch die menschenleere Fußgängerzone schob, war, als Patrick entstanden ist.
Wenn sie um Mitternacht heimkamen, wartete Oliver, um Röhrdanz beim Ausziehen und Waschen seiner Frau behilflich zu sein.
Die Toiletten-Prozedur musste auch noch überstanden werden, und dann brachten Oliver und Röhrdanz ihre schwere Patientin mit vereinten Kräften zu Bett. Ihre Haut wurde jeden Abend sorgfältig eingecremt, denn noch immer gelang es Angela nicht, sich selbstständig im Bett umzudrehen, und es gab am ganzen Körper schmerzende und entzündliche Druckstellen.
Bevor er Angela einen Gutenachtkuss gab, drückte Röhrdanz seiner Frau immer noch die unvermeidliche Hupe in die Hand.
So wagte er es, wenigstens für ein paar Stunden fest zu schlafen.
33
»Sie glauben gar nicht, wie stolz ich auf Sie bin!« Professor Leyen stand strahlend am Gartenzaun, als seine berühmte Lieblingspatientin vorsichtig, Schritt für Schritt, an Röhrdanz’ Arm auf ihn zuspazierte. Sie bemühte sich wahnsinnig, nicht zu straucheln, und ihr liefen die Tränen der Anstrengung, vielleicht auch der Rührung, aus den Augen.
»Meine liebe Angela, vor vier Jahren hätte ich das niemals für möglich gehalten.« Professor Leyen schüttelte ungläubig den Kopf, trat durch das Gartentor und breitete bewegt die Arme aus.
Mit starrer Miene torkelte Angela auf ihren Retter zu, um ihm dann schließlich an die Schulter zu sinken. Er umarmte sie und
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