Der Mann, der's wert ist
sei.
Annabell mache zwar keine Fortschritte, sagte mein Vater — was meine Mutter
bestritt — , aber einige andere Frauen seien tatsächlich soweit kindentwöhnt,
daß sie geregelten Halbtagsbeschäftigungen nachgehen konnten und jetzt andere
Frauen aus der Gruppe dafür bezahlen, auf ihr Kind aufzupassen. Und so sei es
sogar möglich, daß Annabell durch diese Gruppe eines Tages einen bezahlten Job
ergattern könnte. Sie müsse dafür allerdings eine Prüfung ablegen, um zu
beweisen, daß sie in der Lage sei, sich auch um das Kind zu kümmern, für dessen
Aufsicht sie bezahlt würde, nicht nur um Solveig.
Jedenfalls herrschte im
Haushalt meiner Eltern keinerlei Trauer über die Abwesenheit von Annabell und
der ganz tollen Frau. Mein Vater sagte am Ostermontagmorgen, die Kirchenglocken
seien ein sehr dezentes Geräusch, verglichen mit Solveig. Benedikt rief vom
Büro an, er war fleißig und in den letzten beiden Tagen mit den Entwürfen
erfreulicherweise schneller vorangekommen als erwartet.
Für meinen Besuch bei Solveig
und Annabell hatte meine Mutter einen niedlichen Plüschhasen gekauft, wie ein
echter kleiner Hase sah er aus. Den sollte ich als Ostergeschenk mitbringen.
Und ich sollte Annabell sagen, die Verkäuferin hätte geschworen, der Hase sei
für Solveigs Altersstufe einwandfrei kindgemäß. Alle Ostereier,
Schokoladenhasen und sonstigen Ostergeschenke waren Solveig nach diversen
erpresserischen Tobsuchtsanfällen bereits ausgehändigt worden.
Um zwei kam ich zu Annabell.
Schon im Treppenhaus entriß mir Solveig das Päckchen mit dem Hasen. Natürlich
wußte sie mit ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz, daß alles ihr gehört,
was in Geschenkpapier eingewickelt ist. Sie nahm den niedlichen Hasen ohne
Rührung zur Kenntnis und ließ ihn auf den Boden fallen. Das Kind von Annabells
Freundin, ein Junge mit wenig Haaren und Pausbacken, kickte verachtungsvoll
nach dem Hasen und sagte: »Ich hab einen Tiger bekommen. Tiger sind besser.«
Sofort begann Annabell eine
weitschweifige Erklärung, daß Tiger nicht grundsätzlich besser als Hasen seien,
lediglich anders. Tiger hätten zwar ein wertvolleres Fell als Hasen, aber für
die Tiger sei das gar nicht gut, denn aus dem schönen Tigerfell würden sich
böse Frauen Mäntel machen lassen — dabei sah sie demonstrativ zu mir! Und Tiger
könnten vielleicht schneller rennen als Hasen, aber dafür könnten Hasen ganz
tolle Haken schlagen. Und Hasen bekommen mehr Kinder.
Der Junge warf seinen Tiger auf
den Hasen am Boden und rief: »Faß den Scheißhasen! Action, Tiger! Reiß ihm die
Beine aus und kotz sie auf den Teppich!«
Seltsamerweise bekam Solveig
keinen Anfall, sondern lachte begeistert. Dann sagte sie: »Ich will keinen
Tiger, weil der Osterhase Geschenke bringt.«
»Mädchen sind immer so
friedfertig, leider oft auch berechnend«, sagte Annabells Freundin, die am
Tisch Tee trank. Annabell kniete sich vor Solveig auf den Boden, küßte sie auf
den Mund und rief: »Solveig, du bist eine ganz tolle Frau!«
Ich nutzte die kleine Pause, in
der die Kinder nicht tobten, um Annabells Freundin zu begrüßen. Sie sagte: »Ich
bin die Mutter von Moritz, er nennt mich Moma, wie Moritz-Mama. Annabell hat
mir erzählt, daß du kein Kind hast.«
»Das ist meine Luxusschwester«,
sagte Annabell, »die lebt bei ihrem Freund, man munkelt schon von einer
Hochzeit in Weiß.«
Ich sagte ziemlich eisig zur
Mutter von Moritz: »Ich arbeite in einem Hotel als Hausdame.«
»Bringt dir das was?« fragte
sie herablassend-erstaunt, »also mir würde das nichts bringen.«
Geld bringt es mir, dachte ich.
Aber ich wagte es nicht zu sagen. Die Mutter von Moritz blickte mit gerunzelter
Stirn in ihre Teetasse. Besser ich wechselte das Thema: »Kann ich einen Tee
haben?«
»Wir müssen in den Park, die
Kinder wollen raus«, sagte Annabell strafend. Besser ich sagte überhaupt nichts
mehr.
Es dauerte eine Stunde, bis die
Kinder ausgehfertig waren. Die Mutter von Moritz meinte, Annabell solle Solveig
ein Kleid anziehen. Weil Solveig ein Mädchen ist. Annabell hatte keine Lust
dazu. Aber Solveig wollte ein Kleid anziehen. »Da siehst du’s«, sagte die
Mutter von Moritz, »Mädchen wollen immer schöne Kleider tragen, der Moritz ist
da ganz anders, dem ist stinkegal, was er anhat.«
Man merkte ziemlich schnell,
daß die Mutter von Moritz der Meinung war, Jungs seien was Besseres. Ihr Moritz
sowieso. »Mädchen sind mir irgendwie fremd, verstehst du«, sagte sie mit
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