Der Mann, der's wert ist
gehen.
Das >Adorno< wirkte
gemütlich-bieder: halbhohe Holzverkleidungen, nikotingelbe Rauhfasertapeten und
Bilder eines befreundeten Künstlers — solche Bilder eben, die man nur aufhängt,
wenn man mit dem Künstler befreundet ist. Überall Sechsertische. Als ich kam,
saßen an allen Tischen nur zwei oder drei Leute. Ich überlegte unauffällig, wo
ich mich dazusetzen sollte, beschloß, mich zu zwei Frauen zu setzen. Die vier
leeren Stühle an ihrem Tisch seien reserviert für ihre Freunde, sagten sie. Um
so besser, so konnte ich mich zu Männern setzen. Aber bei den drei Männern am
Nebentisch waren die drei freien Stühle ebenfalls reserviert für kommende
Freunde. Am nächsten Tisch bei den nächsten beiden Männern auch. Ich ging von
Tisch zu Tisch — alle freien Stühle waren reserviert... und auf den beiden
Tischen, an denen gar niemand saß, stand ein Schild >Reserviert<.
Etwas dumm stand ich vorm
Tresen rum. Der Kellner meckerte, ich würde ihm im Weg stehen, ich solle in
einer Ecke warten, bis ein Tisch frei würde. Also wartete ich in der Ecke. Etwa
zehn Minuten später gingen zwei Männer, offenbar hatten sie das Warten auf die
Kommensollenden aufgegeben. Na also. Kaum saß ich, setzten sich, lässig, ohne
zu fragen, zwei Männer zu mir, etwa so alt wie ich. Sehr gut. Konnte ich es
wagen, ein Gespräch mit ihnen anzufangen? Ich sah freundlich, aber nicht
aufdringlich zu ihnen hinüber. Sie sprachen nicht miteinander. Plötzlich sagte
der eine: »Dahinten.« Der andere stand sofort auf — sie setzten sich an einen
Tisch hinter mir, der gerade frei geworden war. Wahrscheinlich hatten sie was
sehr Privates miteinander zu besprechen.
Kurz darauf kam ein mies
aussehender Typ, zeigte auf den Stuhl mir gegenüber, ob der frei sei? Unter
normalen Umständen hätte ich nicht so begeistert »ja bitte!« gesagt, aber es
war mir unangenehm, allein an diesem Sechsertisch zu sitzen. Der Typ nahm nur
den Stuhl weg und setzte sich zu den beiden Frauen. Offensichtlich kannte er
sie, war aber keiner der erwarteten Freunde, denn die vier anderen Stühle an
ihrem Tisch blieben weiterhin reserviert.
Dann kam ein Yuppie-Typ. Er
nahm, ohne zu fragen, einen Stuhl von meinem Tisch. Langsam geriet ich in Panik
— was war denn los? Hatte ich irgendwie Dreck im Gesicht? Hatte mir vielleicht
ein Vogel auf den Kopf geschissen? Hatte jemand eine Stinkbombe auf meinen
Pullover geworfen? Achselschweiß? Mundgeruch? Ich ging aufs Klo, konnte aber
nichts feststellen. Als ich zurückkam, fehlten zwei weitere Stühle, außer
meinem war nur noch einer da. Ich sah unablässig auf die Uhr. Dann kam ein
Paar, sie blieben vor meinem Tisch stehen, unschlüssig. Ich betete fast, daß
sie sich einen Stuhl dazuholen und sich zu mir setzen, aber sie nahmen auch den
letzten weg und setzten sich an einen der leeren Tische, auf denen das Schild
>Reserviert< stand. Nun saß ich allein, mit einem Stuhl, an einem
Sechsertisch.
Als endlich um halb neun
Benedikt und Gerhard kamen, wagte ich kaum, Gerhard anzusehen, ich fühlte mich
wie aussätzig. Die beiden holten sich Stühle von einem
>Reserviert<-Tisch. Benedikt merkte natürlich, daß ich deprimiert war,
ich mußte erzählen, was passiert war.
Gerhard Krift lachte: »Das kenn
ich. Das gehört zu dieser Stadt. Hier redet keiner mit einem einsamen Fremden,
nie.«
»Warum nicht?«
»Weil die Leute hier denken,
wenn du allein in die Kneipe gehst, dann hast du keine Freunde. Und wenn du
keine Freunde hast, dann bist du out. Hier wollen alle in sein, weil das hier
eine In-Kneipe sein soll.«
»Ich wollte nicht eine Stunde
lang Plätze reservieren, ich dachte, bis ihr kommt...«
»Du hättest wie alle andern
mindestens zwei Stühle reservieren müssen, besser vier. Dann hätte man gemerkt,
daß du nicht auf andere angewiesen bist. Es hätte zwar trotzdem keiner mit dir
geredet, aber man hätte dir die Stühle gelassen. Die meisten Leute hier sind
mit leeren Stühlen befreundet.«
»Und wenn man wirklich jemand
kennenlernen will?«
»Du kannst hier nicht einfach
so allein in eine Kneipe gehen. Du kannst natürlich alleine gehen, aber dann
mußt du dich auch allein unterhalten. Das ist hier wie in ehrbaren Salons des
letzten Jahrhunderts — du brauchst Leute, die dich vorstellen, die dafür bürgen,
daß es nicht statusmindernd ist, wenn man mit dir spricht. Hier in der Provinz
achtet man sehr auf die Ehre.« Gerhard, der in Köln studiert hat, wo, wie er
behauptete, die Lebensfreude zu
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