Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
die Geräte gekauft hatte, und weitere Ermittlungen hatten ergeben, dass der Gärtner zwei Tage vor dem Kauf der Geräte entlassen worden war. Und so hatte Bernstein den Fall der Polizei übergeben, die schließlich die Bezahlung von dem Gärtner erwirkte, und so hatte er bei seinem ersten Fall eine Lektion gelernt: gründlich zu ermitteln.
Das alles war vor langer Zeit geschehen. Seitdem war es Saul Bernstein in der Stadt South Bay gut ergangen, trotz der Voraussagen seiner besten Freunde. Er war einigermaßen reich geworden und wurde angemessen geachtet, und bis auf eine Sache wäre er auch glücklich gewesen: Er verabscheute das Recht fast so sehr wie Gewalt oder Grausamkeit jedweder Art.
Das war ihm 1940 bewusst geworden, als man ihn zum Richter am städtischen Gericht ernannt hatte. Einer der ersten Männer, die vor ihm erschienen waren, war ein Lastwagenfahrer gewesen, der in betrunkenem Zustand seinen Laster gegen einen Baum gefahren hatte. Der Mann war ungefähr vierzig Jahre alt gewesen, hatte ein rotes Gesicht und bestürzte blaue Augen gehabt und um Gnade gefleht. Er hatte vorgebracht, seine Arbeit hänge von seinem Führerschein ab, der ihm abgenommen werde, wenn er wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt werden würde, und wie er da vor ihm stand im Gericht, voller verletzter Würde, hatte er gesagt, seine Frau sei schwanger und dass er seine Arbeit nicht verlieren wolle.
»Aber das ist schon Ihr zweites Vergehen«, hatte Bernstein gesagt. »Den Unterlagen zufolge wurden Sie erst vor zwei Jahren schon einmal wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt.«
»Deswegen darf ich jetzt ja nicht verurteilt werden!«, hatte der Mann verzweifelt entgegnet. »Dann bekomme ich meinen Führerschein nie zurück!«
Und er hatte um Gnade gebeten, doch es war Bernsteins Sache gewesen, Recht zu sprechen, und mit schmerzendem Magen hatte er Recht gesprochen, und der Mann hatte sich mit einem Blick äußerster Verzweiflung auf seinem roten, trostlosen Gesicht abgewandt.
Es ist nicht einfach für einen Richter festzustellen, dass er die Gerechtigkeit verabscheut, und Bernstein hatte sich diese Entdeckung lange nicht eingestanden. Erst 1948 hatte er sich ihr gestellt, als er die Wahl hatte, Nachlassrichter in South Bay zu werden oder an ein höheres Gericht zu wechseln. Er war durchaus versucht gewesen, South Bay zu verlassen, denn trotz seines neuen Ansehens war seine Frau von keinem der Frauenvereine der Stadt gebeten worden, Mitglied zu werden, doch hatte er sich aus zwei Gründen anders entschieden: Die Vorstellung, Fälle verhandeln zu müssen, die lange Haftstrafen oder gar die Todesstrafe mit sich brachten, entsetzte ihn, und er hatte die Theorie entwickelt, dass Gerechtigkeit für den Richter nur dann erträglich ist, wenn sie auf dem vollständigen Wissen der Prozessgegner wie auch des Gesetzes selbst beruht. Er hatte panische Angst davor, Männer zu verurteilen, über die er fast nichts wusste. In South Bay, wo er fast jeden kannte und reichlich Zeit für jeden Fall hatte, vermochte Bernstein seine Entscheidungen so lange zurückzuhalten, bis er vollständige Informationen angesammelt hatte. Nur selten sah er sich in die Lage gesetzt, bestimmen zu müssen, was für Fremde Recht war.
Und so hatte Bernstein sich entschieden, in South Bay zu bleiben und Richter am Nachlassgericht zu werden, das vorrangig mit einer ordnungsgemäßen Erledigung von Papieren statt Personen befasst war. Und zu seiner eigenen Überraschung war er in der Stadt zu enormer Macht gelangt, denn die Leute hatten gemerkt, dass er dafür, dass er das Recht hasste, dieses außerordentlich gut sprach, und so riefen sie ihn bei Zwistigkeiten aller Art an, selbst bei solchen, die mit dem Nachlassgericht gar nichts zu tun hatten, und wenn Bernstein, nachdem er sich so lange wie möglich Zeit genommen hatte, sein Urteil sprach, hatte das in der Stadt mehr Gewicht als das eines jeden anderen. Er und seine Frau wurden nur selten zu Cocktailpartys oder Abendessen eingeladen, aber fast immer wurde er bei Stadtversammlungen oder anderen Gelegenheiten, formellen wie informellen, wo Unvoreingenommenheit gefordert war, zum Moderator gemacht, und nur wenige wussten, wie sehr ihn der Magen schmerzte, wenn er seine schwammige Hand hob und sagte: »Ja, ja, ich verstehe, aber nun wollen wir uns doch auch die andere Seite ansehen …«
Als Richter Bernstein nun den Brief, den er von Tom Rath erhalten hatte, noch einmal las und sich an das Gespräch erinnerte, das
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