Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
schmalen Kerze auf einem Silbergriff vierzehn Kerzen. Die Bänke um Tom herum waren mit älteren Damen angefüllt, von denen viele knieten. Tom schaute zu Betsy und sah, dass sie noch immer auf den Knien war, die Augen geschlossen, das Gesicht verzückt. Wie schön sie ist, dachte er. Er kniete unbehaglich neben ihr und schloss die Augen.
Eine Stunde später rief Tom gleich nach der Rückkehr Sims an. Als der von Edward hörte, fluchte er, was in seiner Aussprache merkwürdig kultiviert und präzise klang.
»Glauben Sie, er kann uns Schwierigkeiten machen?«, fragte Tom.
»Das hängt davon ab, was er ›Beweise‹ nennt – wenn er etwas Schriftliches hat, könnte er die Sache erschweren. Würde er versuchen, das Testament anzufechten, könnte sich das monatelang hinziehen.«
»Wenn es zu einer langen Verzögerung käme, könnte mich das kaputtmachen«, sagte Tom. »Ich muss den Bau hier schnell loswerden – je länger wir ihn behalten, desto weniger Geld werden alle bekommen. Vielleicht kann ich mich ja außergerichtlich mit ihm einigen.«
»Vielleicht setzt er ja darauf«, sagte Sims. »Ich würde es aber nicht in Erwägung ziehen. Ich weiß verdammt genau, dass Ihre Großmutter alles Ihnen hinterlassen wollte – wir haben unzählige Male darüber gesprochen. Ich würde dranbleiben und abwarten, was er zu bieten hat. Er soll ruhig merken, wie schwer es ist, vor Gericht zu gehen, bevor Sie mit ihm sprechen.«
»Können wir denn bis dahin etwas tun?«
»Nicht viel«, sagte Sims. »Überhaupt werde ich Ihnen von nun an wenig helfen können. Das Ganze wird vor ein Nachlassgericht kommen – ich habe dem Richter schon eine Kopie des Testaments geschickt. Er wird derjenige sein, der über etwaige Ansprüche von Edward entscheiden muss.«
»Wer ist es?«
»Bernstein – Saul Bernstein. Er hat eine Kanzlei in der Main Street, glaube ich – ich habe gehört, er hat sein ganzes Leben in South Bay verbracht. Es könnte sich lohnen, wenn Sie mal bei ihm reinschauen.«
»Haben Sie eine Ahnung, was das für einer ist?«
»Keine Ahnung«, sagte Sims. »Bin ihm nie begegnet.«
Tom dankte Sims und legte auf. Er beschloss, Bernstein einen Brief zu schreiben und ihn um einen Termin zu bitten. Eine eigenartige Vorstellung, dass so viel von einem Mann abhing, dem er nie begegnet war.
19
Es war Dienstagmorgen, neun Uhr. Richter Saul Bernstein, ein kleiner, fülliger Mann mit einem großen Leberfleck auf der linken Wange, stieg die Treppe in den zweiten Stock des Whitelock-Hauses hinauf, des zweitgrößten Bürogebäudes von South Bay. Ein wenig schnaufend betrat er den Linoleumboden des kahlen Raums, der sein Büro darstellte, und lächelte seiner Sekretärin zu, einer schmalen Frau, die eifrig über die Schreibmaschine gebeugt war. »Guten Morgen, Sally«, sagte er. »Wie geht’s Ihnen heute?«
Ihre Hände unterbrachen ihr Geflatter über der Tastatur, und sie blickte dankbar zu ihm hinauf. »Gut, Herr Richter«, sagte sie. »Meine Erkältung ist fast weg.«
Er setzte sich hinter seinen zernarbten Kiefernschreibtisch in der Ecke des Raums und sah die Morgenpost durch, die seine Sekretärin ihm geöffnet hatte. Der oberste Brief bat um einen Termin am folgenden Samstag oder jedem beliebigen Abend, wenn das nicht zu viele Umstände bereite. »Ich würde gern mit Ihnen über die Regelung des Nachlasses von Mrs Florence Rath sprechen«, hieß es in dem Brief. »Auch hat man mir gesagt, Sie könnten mir Ratschläge für die Möglichkeit einer Aufteilung ihres Grundstücks in halb-Hektar-große Parzellen geben …« Der Brief bezog sich auf das Testament, das Sims Bernstein geschickt hatte, und schloss mit Dankbarkeit im Voraus für jede Hilfe, die Bernstein gewähren könne. Er war unterzeichnet mit »Thomas R. Rath«.
Bernstein hatte den Brief gerade durchgelesen, als das Telefon klingelte. Seine Sekretärin nahm an der Nebenstelle auf ihrem Schreibtisch ab und sagte: »Für Sie, Herr Richter. Er will seinen Namen nicht nennen.«
»Hallo?«, sagte Bernstein.
Einen Augenblick lang war die einzige Antwort ein Summen im Hörer.
»Hallo?«, wiederholte Bernstein.
»Ich will mit dem Richter sprechen!«, erwiderte eine harte Stimme.
»Hier ist Richter Bernstein. Mit wem spreche ich?«
»Sind Sie der Richter, der Testamente bearbeitet?«, fragte die Stimme.
»Ja, ich bin der Richter des Nachlassgerichts«, sagte Bernstein forsch. »Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.«
»Mein Name ist Schultz, Edward Schultz«, sagte
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