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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sloan Wilson
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Hopkins in seinem Leben kein einziges Mal gescheitert.
    »Du musst kürzertreten«, hatte Helen gesagt, noch bevor sie verheiratet waren, aber anders als die Lehrer und Studienberater hatte sie es nicht dabei bewenden lassen. Als sie herausfand, dass Hopkins die meisten Abende und Wochenenden im Büro zu verbringen pflegte, war sie erst verärgert, dann empört und schließlich verletzt und verwirrt.
    »Das Leben ist es nicht wert, so zu leben«, hatte sie gesagt. »Ich sehe dich ja nie! Du musst kürzertreten!«
    Er hatte es versucht. Besonders in ihrem zweiten Ehejahr, als ihr erstes Kind, Robert, geboren wurde, hatte er es versucht. Er war jeden Abend um sechs Uhr nach Hause gekommen und hatte gewissenhaft mit dem Kind gespielt und sich mit seiner Frau unterhalten und mit echtem Entsetzen festgestellt, dass das Baby ihn nervös machte und dass es ihm, wenn er sich mit seiner Frau unterhielt, fast unmöglich war, stillzusitzen. Er hatte sich genötigt gefühlt, aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu tigern, mit dem Kleingeld in der Hosentasche zu klimpern und auf die Uhr zu schauen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er an diesen langen Abenden zu Hause stark getrunken. Nach und nach war er dann wieder länger im Büro geblieben – zu der Zeit hatte er schon einen ziemlich wichtigen Posten in der United Broadcasting Corporation inne. Helen hatte ihm Vorhaltungen gemacht. Es hatte gegenseitige Vorwürfe gegeben, lautstarke Streitereien und Scheidungsdrohungen.
    Na gut, es ist ein Problem, hatte er sich nach einer besonders erbitterten Szene gesagt – ein Problem, das frontal angegangen werden muss, wie alle anderen Probleme auch. Zu Helen hatte er leise gesagt: »Ich will keine Szenen mehr – die machen uns beide kaputt. Ich bin bereit zuzugeben, dass alles, was schiefläuft, voll und ganz meine Schuld ist. Ich bin ganz auf meine Arbeit konzentriert – mein ganzes Leben schon, und du darfst dir daran nicht die Schuld geben.«
    Sie war bleich geworden. »Willst du die Scheidung?«, hatte sie gefragt.
    »Nein«, sagte er. »Du?«
    »Nein.«
    Sie hatten nie wieder über Scheidung gesprochen, aber sie bezeichnete sein übermäßiges Arbeiten nun als Krankheit. »Du musst etwas dagegen unternehmen«, hatte sie gesagt und zu einem Psychiater geraten.
    Zwei Jahre lang hatte Hopkins sich einer Psychoanalyse unterzogen. Fünfmal die Woche hatte er in der Wohnung des Analytikers in der Sixty-ninth Street auf der Couch gelegen und sich seine Kindheit in Erinnerung gerufen. Sein Vater war ein fröhlicher, ziemlich ineffizienter Mann gewesen, der jeden Nachmittag, als er von seiner Arbeit als stellvertretender Leiter einer kleinen Papiermühle in einem Dorf im Staate New York nach Hause kam, vor allem damit verbracht hatte, auf der Veranda ihres schäbigen, aber behaglichen Hauses zu schaukeln. Seine Mutter, von den bescheidenen Leistungen und Zielen ihres Mannes enttäuscht, hatte ihn mit bitterer Herablassung behandelt. Die meiste Zeit hatte sie ihre Familie sich selbst überlassen und ihre ganze Kraft der Arbeit im örtlichen Gartenverein und einer verwirrenden Vielzahl sozialer und gemeinnütziger Organisationen gewidmet. Als sie in diesen Gruppen die Leitung übernahm, wuchs ihre Abneigung gegen ihren heiter durchschnittlichen Mann noch. Letztlich hatte sie sich in einem eigenen Zimmer im zweiten Stock des Hauses eingerichtet und sich den Großteil von Ralphs Kindheit hindurch als große Dame inszeniert, die nur vorübergehend gezwungen war, bei armen Verwandten zu wohnen.
    Hopkins neigte nicht zur Introspektion, aber als er all das seinem Analytiker berichtete, hatte er gesagt: »Mein Vater hat mir immer leidgetan, weil meine Mutter ihn so schlecht behandelte. Auch für mich hatte sie wenig Zeit, außer wenn ich etwas tat, was sie für überragend hielt. Bekam ich ein besonders gutes Zeugnis oder gewann etwas, durfte ich zu ihr hinauf aufs Zimmer und allein mit ihr Tee trinken. ›Wir beide sind einzigartig‹, sagte sie immer. ›Wir leisten etwas.‹ Vermutlich hatte ich von ihr vermittelt bekommen, dass nur Leistung zählt.«
    Hopkins war ziemlich stolz auf seine Bemühungen um Eigendiagnose gewesen und dementsprechend überrascht, als der Analytiker seine Ansichten zugunsten weit bizarrerer »Erklärungen der Neurose« verwarf. Er hatte gesagt, Hopkins habe wahrscheinlich einen tief sitzenden Schuldkomplex und dass sein ständiges Arbeiten schlicht der Versuch sei, sich zu bestrafen und vielleicht umzubringen.

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