Der Mann im Labyrinth
mit seinen Gebrechen zu konfrontieren, galt eindeutig als asozialer Akt.
Aber kein noch so begabter Chirurg konnte Mullers Leiden durch eine Operation beheben. Das einzige Mittel dagegen war ein Rückzug aus der Gesellschaft. Eine schwächere Persönlichkeit hätte sich für den Freitod entschieden. Muller hatte das Exil gewählt.
Rawlins war noch immer völlig durcheinander. Die volle Wucht von Mullers Ausstrahlung hatte ihn verwirrt. Einige Sekunden lang hatte er eine formlose, inkohärente Ausstrahlung von ungefilterten Emotionen empfangen. Mullers Innerstes hatte sich unfreiwillig und stumm ergossen. Der Empfang solch unkontrollierter Intimität löste Schmerz und Niedergeschlagenheit aus.
Die Hydrier hatten Muller nicht im eigentlichen Sinn zu einem Telepathen umgewandelt. Muller konnte nicht in den Gedanken anderer lesen oder seine Gedanken anderen übermitteln. Er sandte nur einen Strom seines innersten Ichs aus: einen Strudel unverdünnter Verzweiflung, einen Fluß aus Bedauern und Leid, einen Strom aus fauligem Seelenschlamm. Er konnte solche Ergüsse einfach nicht zurückhalten. In diesem scheinbar ewig währenden Augenblick war Rawlins in jenem Meer gebadet worden. In den anderen Momenten hatte er nur vage und unspezifizierte Traurigkeit empfangen.
Er konnte seine eigenen ursprünglichen Empfindungen in diesem ungehemmten Ausfluß erkennen. Mullers Schmerzen waren nicht einzigartig oder individuell. Er verströmte lediglich die Erkenntnis von den Nöten, die das Universum für seine Bewohner bereithielt. In jenem Augenblick hatte Rawlins gespürt, daß ihm jeder Mißklang der Schöpfung vertraut war: verpaßte Gelegenheiten, enttäuschte Liebe, häßliche Worte, Leiden in unverschuldeter Not, Mangel, Gier, Lüste, den bohrenden Neid, die Bitterkeit der Frustration, den schmerzenden Zahn der Zeit, den Tod aller kleinen Insekten im Winter, die Tränen aller Lebewesen. Er hatte Alter, Verlust, Impotenz, Wut, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Öde, Selbstverachtung und Wahnsinn erfahren. Ein stummer Aufschrei kosmischen Zorns.
Sind wir alle so? fragte er sich. Kommt aus mir der gleiche Strom, von Boardman, von meiner Mutter und von dem Mädchen, das ich einmal geliebt habe? Geht jeder von uns umher wie ein taubstummer Blinder, eingeschlossen in die eigene Qual und unfähig, das Leid des Nächsten wahrzunehmen?
Ist er allein sehend geworden?
„Wachen Sie auf“, sagte Boardman. „Hören Sie auf zu grübeln, und achten Sie lieber auf die Fallen. Sie befinden sich kurz vor Zone C.“
„Charles, was haben Sie empfunden, als Sie zum ersten Mal in die Nähe von Muller gekommen sind?“
„Darüber reden wir später noch.“
„Kam es Ihnen auch so vor, als hätten Sie zum ersten Mal erfahren, wie es um die Menschen bestellt ist?“
„Ich sagte doch bereits, darüber reden wir …“
„Lassen Sie mich aussprechen, was ich erklären will, Charles. Im Augenblick befinde ich mich hier in keiner Gefahr. Ich habe eben einen Blick in die Seele eines Menschen tun können, und ich bin noch ganz verwirrt davon. Aber, Charles, das müssen Sie mir glauben, er ist nicht so. Er ist ein guter Mensch. Seine Ausstrahlung ist bloß Schall, ist Abfall. Es ist eine Art Dreck oder Schlamm, aus dem man nichts Wirkliches über Dick Muller erfährt. Es sind Geräusche, die eigentlich gar nicht für unsere Ohren bestimmt sind. Und die einzelnen Töne wollen überhaupt nicht zueinander passen – genauso, als wenn man über einen voll aufgedrehten Empfänger die Geräusche des Kosmos einfangen will, da hört man auch nur das Knistern des Spektrums, nicht wahr, und einige der wunderschönsten Sterne geben die entsetzlichsten Geräusche von sich. Doch diese Töne sind nur das, was der Empfänger aus ihnen macht. Sie haben nichts mit den wahren Werten des Sterns zu tun, sondern, sondern …“
„Ned!“
„Tut mir leid, Charles.“
„Kommen Sie unverzüglich ins Camp. Wir stimmen Ihnen da alle zu, daß Richard Muller ein feiner Kerl ist. Deshalb wollen wir ihn ja auch, mehr noch, wir brauchen ihn. Und Sie brauchen wir auch. Halten Sie also die Klappe und passen Sie auf, wo Sie hintreten. Vorsichtig jetzt. Sachte. Ruhig. Ruhig. Was ist das für ein Tier dort, zu ihrer Linken? Jetzt schnell, Ned. Nur die Ruhe bewahren. Das ist der richtige Weg, mein Sohn. Sachte. Ja.“
Acht
Als sie sich am nächsten Morgen wiedersahen, war es für beide schon wesentlich einfacher. Rawlins hatte ausgezeichnet unter der Schlafanlage
Weitere Kostenlose Bücher