Der Mann im Park: Roman (German Edition)
Karlström hatte eine andere Vermutung geäußert, als sie vor fast dreizehn Jahren im Leichenschauhaus gestanden hatten. Der Amtsarzt hatte gemeint, die Verletzungen an Ingrids Kopf wiederzuerkennen. Er meinte, er hätte derartige Verletzungen schon früher gesehen, und zwar bei Leuten, die bei den Krawallen auf dem Riddarhustorget Anfang der Zwanzigerjahre von Polizeischlagstöcken getroffen worden waren.
»Und Sie wissen nicht, warum sein Vater ihn geschlagen hat?«, fragte Stierna.
»Nein«, antwortete Hammar. »Arvid sollte wahrscheinlich lernen, dass er nichts wert war. Und deshalb hat ihn später wohl auch nichts interessiert, weil ihm immer wieder eingeprügelt worden war, dass er sowieso nichts wert ist.«
»Hat Arvid Enberg seinen Vater als Stinsen bezeichnet?«
»Ich weiß nicht, ob er den Ausdruck verwendet hat. Aber sein Vater war ja Bahnhofsvorsteher, also ein Stins. Er hat überhaupt nur selten von seinem Vater gesprochen. Übrigens hieß er Johan, der Vater.«
Stierna sah zu Boden. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit ihn irgendwie wieder eingeholt hatte.
»Und nach drei Jahren«, fragte er. »Was ist nach drei Jahren passiert?«
»Nach drei Jahren? Was meinen Sie damit?«, fragte Hammar verwundert.
»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie drei Jahre lang ganz hinten im Klassenzimmer gesessen haben. Was ist dann passiert?«
»Da sind sie draufgekommen, dass ich nicht hören konnte. Ich hatte gute Eltern. Eines Tages haben sie mich zu einem Arzt nach Ludvika gebracht, weil ich so oft Kopfschmerzen hatte. Den Tag werde ich nie vergessen. Dieser Arzt begriff gleich, was los war, und sagte, dass ich nicht hören konnte. Dass es ein Wunder war, dass ich die drei Jahre lang so gut zurechtgekommen war. Und das gab mir Kraft. Außerdem durfte ich von da an ganz vorn sitzen im Klassenzimmer. Auch wenn nun die Störenfriede und Raufbolde neben mir saßen, war es doch eine Befreiung. Und von diesem Tag an fürchtete ich sie nicht mehr. Ich war ein anderer, ich lernte, sie nicht zu beachten. Seitdem haben sie mich auch nicht mehr geschlagen. Und ich stellte fest, dass ich physisch stark war. Es war, als hätte sich eine Tür, die die ganze Zeit geschlossen gewesen war, geöffnet.«
»Und Ihr Freund? Enberg?«
»Der machte schließlich das Gleiche. Nur, dass es bei ihm schlimmer wurde. Aber das war viel später, sicher drei Jahre später. Ich habe meinen Quälgeistern verziehen. Inzwischen sind einige von ihnen sogar meine Freunde. Aber er, er hat ihnen nie verziehen.«
Stierna tastete nach der Zigarettenpackung in der Hosentasche, verzichtete dann aber.
»Da fingen sie an, ihn zu fürchten«, fuhr Hammar fort. »Und das hat mir Angst gemacht.«
»Was hat Ihnen Angst gemacht?«
»Eines Tages hatte er genug. Aber er war nicht wie ich, er ging mit der Sache ganz anders um. Nach den Sommerferien kam er zurück in die Schule und war ein anderer. Als hätte er etwas beschlossen, als hätte er eine Hemmschwelle überschritten.«
»Wann war das?«
»Als wir in der sechsten Klasse anfingen. Da hat er zurückgeschlagen, gleich in der ersten Pause. Sie fingen wieder mit diesem Lied vom Spatzen an. Ich musste zusehen, konnte nichts tun. Schließlich wollte ich auch nicht, dass sie wieder über mich herfielen. Aber statt einzustecken, teilte er aus. Und zwar reichlich. Ein Junge, er war so eine Art Anführer, hieß Sven Hult. Er war groß und kräftig, und deshalb konnte er sich wohl so gut durchsetzen. Aber Arvid schlug ihm in der Pause auf den Kopf. Mit einem Besenstiel, direkt auf den Kopf. Das Blut strömte, und Sven Hult fiel zu Boden. Er schrie wie ein abgestochenes Schwein. Danach machte sich niemand mehr über Arvid lustig. Erst ein paar Tage später, da fingen sie wieder an. Und dieses Mal riefen sie ihm nicht nur Spottlieder hinterher, sondern sie schlugen ihn auch. Aber er stand immer wieder auf, kauerte sich nicht zusammen wie früher. Er stand einfach wieder auf, steckte die Schläge ein. Zwei Tage später brannte auf dem Grundstück der Familie Hult ein Schuppen. Niemand wusste, ob das Brandstiftung war oder nicht.«
»Sie glauben, Arvid Enberg hat das Feuer gelegt?«
»Ich weiß es nicht. Aber es ging weiter so. Ja, es wurde noch schlimmer. In der Schule verschwanden plötzlich Sachen, Bänke wurden beschädigt. Und auf dem Schulhof … Da waren nicht mehr die Rabauken hinter Arvid her, jetzt war er hinter ihnen her. Und auch wenn sie ihn verprügeln und für eine Weile aus dem Verkehr ziehen
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