Der Mann im Schatten - Thriller
gesehen hab. Richtig?«
Ich atmete tief durch. Ich konnte kaum fassen, dass ich dieses Gespräch führte. Das ganze übliche Prozedere wurde auf den Kopf gestellt. Normalerweise konnte Kenny Sanders nur dann als potenzieller Verdächtiger gelten, wenn Tommy Butcher ihn in der betreffenden Nacht gesehen hatte. Doch in unserem Fall wollte ihn Tommy Butcher nur dann gesehen haben, wenn er ein potenzieller Verdächtiger war. Es gab sieher
einige Cops und vielleicht auch einige Staatsanwälte, die ihre Fälle so lösten. Ich war nie einer von dieser Sorte gewesen. Und das hatte mich immer mit Stolz erfüllt.
»Hey, hören Sie«, fuhr er fort und hob die Hände. »Sie haben einen Mandanten, der seiner Schwester Gerechtigkeit verschafft hat, zumindest in meinen Augen. Der Perverse hat seine Schwester gekillt, also murkst er den Typen ab. Würd ich an seiner Stelle genauso machen. Aber wenn ich wegen irgendwas angeklagt wäre, und ein Schwarzer wäre mit einer Knarre in der Hose vom Tatort weggelaufen, dann wäre ich verdammt froh, wenn sich jemand meldet und das aussagt. Also sag ich das aus. Glauben Sie mir, ich hab wirklich Besseres zu tun, als vor Gericht zu erscheinen. Aber ich mach es trotzdem, wenn Sie den Richtigen gefunden haben.«
Der Wind frischte auf, und die Temperaturen näherten sich dem Gefrierpunkt. Ich dachte an Talia. Ich dachte an Sammy. Und an Audrey. Ich dachte über Gerechtigkeit und Fairness nach und darüber, dass die Regeln, die wir für unser System der Strafjustiz aufgestellt haben, manchmal einfach nicht greifen. Hier stand etwas Größeres auf dem Spiel, eine Art höhere Moral. Wenn Sammy Griffin Perlini getötet hatte, dann war es unangemessen, dass er dafür sein ganzes Leben im Gefängnis schmorte. Und hatte er es nicht getan, dann verdiente er keinen einzigen Tag dort drin. Keine gesetzliche Bestimmung konnte etwas an dieser Wahrheit ändern.
»Ich hab den Kerl gefunden«, sagte ich. »Aber Sie haben mich das nicht sagen hören.« Ich reichte ihm einen Abzug des Fotos von Kenny Sanders.
Er nahm das Bild, ohne ihm einen Blick zu gönnen. »Okay, gut. Ich hab Sie das nicht sagen hören.«
Ich erklärte ihm, er solle das Foto behalten. Eine subtile
Aufforderung, es zu studieren und sich die Details einzuprägen. Außerdem wies ich ihn darauf hin, dass die Anklage seine Aussage auseinandernehmen und möglicherweise sogar den Versuch starten würde, sie für unzulässig zu erklären. Dann überließ ich ihn wieder seinem Bauprojekt und flüchtete mich in meinen Wagen, wo ich Schutz vor dem eisigen Wind suchte. Ich fuhr in der Gewissheit davon, nun über zwei potenzielle Tatverdächtige zu verfügen, Kenny Sanders und Archie Novotny. Beide waren plausible Alternativen zu Sammy Cutler. Zwar trat ich dabei alles mit Füßen, was man mir über meinen Beruf beigebracht hatte, ich überschritt so gut wie jede moralische Grenze, spottete den ethischen Prinzipien, die ich früher hochgehalten hatte. Ich hatte Beweise gefälscht, Zeugen Aussagen in den Mund gelegt, über jede übliche Überzeugungsarbeit eines Anwalts hinaus - und dennoch empfand ich nicht das Geringste dabei. Keine Schuldgefühle. Keine Selbstzweifel. Nur die Erkenntnis, in diesem Moment bloß dem Namen nach als Anwalt zu handeln, während sich der Mensch hinter dem Titel versteckte. Ab jetzt würde ich mich allein darauf konzentrieren, zu gewinnen, und ich würde alles aus meinem Bewusstsein streichen, was ich dafür bereitwillig hatte über Bord gehen lassen.
»Happy birthday to you, happy birthday to you.«
Talia sitzt geduldig am Tisch, trägt dieses süße Lächeln im Gesicht und auf dem Kopf den kleinen Partyhut, den wir ihr für die Feier aufgezwungen haben. Ich habe zähneknirschend eingewilligt, dass Emily die mit jeder Menge Kerzen besteckte Torte von der Küche ins Esszimmer trägt. Talias Eltern stimmen in den Gesang ein, ihre Mutter hat unsere kleine Tochter Justine auf dem Schoß. Vor Talias Eltern stehen Weingläser,
aber nicht vor Talia, denn bei ihr sind schon wieder deutliche Anzeichen einer dritten Schwangerschaft zu sehen, ein Junge diesmal.
»Mami, wie alt bist du?«, fragt Emily und setzt sich wie ein richtig großes Mädchen an den Tisch.
»Alt genug, Schätzchen.« Sie lacht auf ihre selbstironische Art.
»Du wirst keine weiteren Geburtstage mehr feiern dürfen«, sagte Talias Mutter Ginny. »Denn das bedeutet, dass auch ich immer älter werde!« Die kleine Justine auf ihrem Schoß beginnt zu
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