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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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bald an irgendeiner Straßenecke stehen wird, die junge Frau mit dem kleinen Kind und den traurigen Augen sich vielleicht wird verkaufen müssen. In bizarrer Weise am Ziel ihrer Träume, die hier zu Ende sind. Zynisch und unerbittlich. Und zum ersten Mal der Gedanke, daß Freiheit und Gerechtigkeit nicht dieselben Wurzeln haben.
    Der junge Mann mit dem Akkordeon nähert sich mir, hält es mir hin. Ich wehre erst ab. »Bitte, spielen Sie für uns«, erklärt der Kellner mit seinem polnischen Akzent. »Ich habe Sie Klavier spielen gehört. Das hier ist wie ein Klavier.« Er hält es mir nochmals entgegen. »Bitte! Vielleicht bringt es uns Glück!«
    Einige Umstehende applaudieren aufmunternd, Herwig flüstert mir ein »Na los!« zu. Der Kellner hilft mir, das schwere Instrument umzuschnallen. Ich denke an die Schloßfeste auf Ottmanach, bei denen ich als Kind die Gäste mit dem Akkordeon willkommen hieß. Finde mich schnell wieder in die Harmonien, begleite die von Geigen und Klarinette vorgegebenen Melodien. Der Kellner tanzt mit einem kleinen Mädchen, das in der Nähe stand.
    Plötzlich von der Klarinette vertraute Töne, ein kleines, russisches Lied, das meinem Großvater so viel bedeutet hat: »Kalinka«. Ich halte einen Augenblick inne, stimme dann mit dem Akkordeon ein. D-Moll. Für meinen Großvater, für meine Familie, denke ich mir, ganz und gar angesteckt von der fast betäubend ausgelassenen Stimmung an Bord, mit der viele der Reisenden sicher auch ihre Ängste und Zweifel zu verdrängen suchen.

    »Kalinka, Kalinka, Kalinka moja« spielen wir. Die Passagiere lassen sich vom Rhythmus anstecken, tanzen an den schnellen Stellen, klatschen in die Hände, singen mit, während sich uns Schlepper und das Lotsenboot nähern, die uns die letzten Stunden des Weges begleiten sollen. Euphorisch werden sie begrüßt. Einer der Matrosen winkt zurück, die anderen widmen sich ganz ihrer Arbeit. Zu oft schon haben sie diesen Jubel erlebt, zu genau wissen sie wohl, was die Reisenden in ihrem Land erwartet. Keine Illusionen mehr.
    Einige der Offiziere kommen an Deck, um nach dem Rechten zu sehen. Sofort werden sie in den Kreis der Feiernden gezogen, zum Tanz gebeten, bekommen Wein angeboten, Kaffee, auch selbstgebrannten Rum und Wodka, der jetzt die Runde macht. Etwas skeptisch lassen sie sich von der allgemeinen Fröhlichkeit anstecken, vielleicht der letzten, bevor der neue Ernst für die meisten der Asylsuchenden beginnen wird.
    »Kalinka« und kein Ende. Habe die Wiederholungen nicht gezählt. Der Kellner wirbelt das kleine Mädchen umher, eine Frau an der Reling wiegt schweigend ihr in Decken gehülltes Baby in den Schlaf und hinter uns erhebt sich langsam die frühe Morgensonne aus dem Meer und taucht die allmählich deutlich erkennbare Skyline New Yorks in beinahe feierliches, warmes, weiches Licht. Die letzten Sterne verblassen.
    Stunden der Annäherung. Ganz im Bann der Wolkenkratzer. Eine von Menschen geschaffene, bizarre Landschaft. In ihrer Schönheit auch beklemmend. Atemberaubend in ihrem Gigantismus, schon aus der Ferne. Monumente des Machbaren, und doch wirken sie in ihrer Größe auch zerbrechlich, vergänglich. Schwindelgefühle bei dem Gedanken an all die Tausenden Menschen, die hinter den erleuchteten Fenstern leben, dicht an dicht. Nähe, die einsam macht. Und für uns doch berauschende Lichtzeichen einer Neuen Welt.
    Fast schon kann man die Freiheitsstatue erkennen, noch nicht viel mehr als ein Pfahl, der irgendwo in der Ferne scheinbar mitten aus dem Wasser des Hudson River ragt.
    »Das muß sie sein!« mutmaßt jemand in unserer Nähe.
    »Nein, das kann nicht sein! Die müßte doch viel größer sein!« Ein anderer kann es nicht so recht glauben.
    Die Feierstimmung ebbt allmählich ab, wird abgelöst vom
schweigenden Staunen, den unzähligen individuellen Gedanken und Hoffnungen der Reisenden, die sich mit dieser Figur verbinden. Und wirklich: Sie ist es! - »Miss Liberty«, die siebenstrahlige Krone stellvertretend für die sieben Kontinente und Weltmeere auf dem Kopf, die Unabhängigkeitserklärung in ihrer Linken, die Fackel der Freiheit in ihrer Rechten, zu ihren Füßen die gesprengten Ketten der Sklaverei. Als Geschenk Frankreichs an Amerika zur Befreiung des Landes von der Sklaverei, zum Sieg der Demokratie, der Freiheit und Menschenwürde ist sie selbst als »Einwanderin« in dieses Land gekommen. Und nun heißt sie die Einwanderer und Asylsuchenden willkommen, die Schiffbrüchigen unserer

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