Der Mann mit dem Fagott
eine Pause, dann die entscheidende Antwort: »He’s white …« Und schnell hinzugefügt: »But don’t worry! I handle it!«
Und mit einem strahlenden »Everything’s perfect« kam er aus der Telefonzelle zurück.
Wir luden mein Gepäck bis auf ein paar wenige Habseligkeiten in seinen Wagen und verabredeten einen Treffpunkt am Plaza Hotel, nahe dem Central Park. Angeblich nicht zu verfehlen. Und Harlem liegt nun einmal nicht weit von dieser vornehmsten Gegend New Yorks entfernt. Einer der wohl typischen Gegensätze, die dieses Land beherrschen. Ohne viel Aufhebens um unseren Plan zu machen, brauste er mit quietschenden Reifen davon.
Herwig und ich setzten unsere Fahrt nach New York fort, hatten die Nacht in irgendeiner billigen Jazz-Kneipe verbracht und uns dann mit dem Wagen einen Schlafplatz gesucht. Waren auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen zuerst in den sogenannten »Meat-District« geraten, der Gegend der Metzger und der Prostituierten, doch die immer wieder an unsere Scheiben klopfenden Liebesdienerinnen auf der Suche nach Freiern und der Gestank der Schlachthöfe, nach Fleischabfällen und verbrannten Kadavern vertrieben uns schnell von dort.
Fanden eine bessere Stelle noch ein Stück weiter südlich, ganz nah dem Pier, an dem die »MS Waterman« damals angelegt hatte. Purer Luxus, uns den Wagen nur noch zu zweit und nicht mehr zu fünft teilen zu müssen, wie so oft in den letzten Wochen. Eine erstaunlich ruhige Nacht. Nur ein einziges Mal wurden wir von einem Penner geweckt, der gegen unsere Scheibe klopfte, um etwas Geld, etwas zu trinken oder zu essen bettelte, aus Enttäuschung über unser Kopfschütteln gegen den Reifen pinkelte und dann in der Dunkelheit verschwand.
Ansonsten nur die Geräusche von Lieferwagen, die bei den kleinen Geschäften entladen wurden, und dem Berufsverkehr, wahrgenommen im Halbschlaf, wie aus weiter Ferne.
Irgendwann ein kleines Frühstück im Wagen aus zwei Scheiben Brot und einer brüderlich geteilten Scheibe Bacon. Den meistens flauen, manchmal knurrenden Magen jener Wochen kann diese »Mahlzeit« jedenfalls kaum verscheuchen.
Herwig ist seltsam gedankenverloren, offenbar besorgter als ich über mein Vorhaben, die nächsten Tage in Harlem zu verbringen. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache. Weißt du denn auch wirklich, worauf du dich da einläßt? Harlem! Ausgerechnet! Du weißt doch, was los ist. Die Rassenunruhen in Little Rock, die aufgeheizte Stimmung überall im Land. Und du der einzige Weiße weit und breit, mitten in Harlem … das ist doch Irrsinn!«
Aber er weiß, ich habe es mir nunmal in den Kopf gesetzt, in New York zu bleiben, diese Stadt endlich ein bißchen besser kennenzulernen als damals, zu Beginn unserer Reise, auf der Durchreise nach Pittsburgh. Und wo sollte ich diese Stadt direkter und näher an ihrem Puls erleben als ausgerechnet in Harlem. Verrückt ist es sicher, aber bestimmt auch unendlich aufregend und faszinierend und unvergeßlich.
»Na gut«, seufzt er etwas ratlos. »Dann sehen wir uns hoffentlich in Montreal wieder.« Durch das geöffnete Fenster reicht er mir den Umschlag mit meinen übrigen Notreserven. Außen hat er die Telefonnummer der Helmkes, seinen deutsch-amerikanischen Freunden in Fort Wayne notiert. »Nur für alle Fälle. Das Geld im Umschlag müßte im Notfall für ein Zugticket nach Fort Wayne reichen.«
Ich nicke.
Ein letztes »Paß auf dich auf«, dann fährt er los, und ich stehe allein an diesem lauen Tag im Frühherbst am Pier, dort, wo vor zweieinhalb Monaten alles begann.
Möwenschreie. Irgendwo, leise, der einsame Klang einer Geige der immer lauter wird, bis ich um eine Ecke biege und vor einem alten Mann stehe, der an einer Weggabelung, ganz in sich selbst versunken, spielt. Emotion in seinem Blick und seinen Tönen. Er spielt erstaunlich gut, besser als so mancher Geiger, die bei uns zu Hause in den Orchestern der Theater und Radiostationen angestellt sind. Es scheinen Passagen aus dem Violinkonzert von Tschaikowskij zu sein, hinreißend interpretiert, präzise intoniert. Noch nie habe ich irgendwo einen Straßengeiger so spielen gehört.
Wie gut muß man sein, um in diesem Land seinen Weg zu machen? Oder wie hold muß einem der Zufall sein, das unberechenbare Schicksal, dem man alles gibt und das einen dann doch im Stich läßt und einen auf einen Platz im Park verweist, in der Hoffnung auf ein paar Münzen zum Überleben, einen freundlichen Blick als
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