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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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unendlich beeindruckend, blickt sie uns entgegen und doch über uns hinweg, ein wenig so, als würden wir gar nicht existieren. Vielleicht ein bißchen symbolisch für den Geist der Freiheit, der in seiner Allgemeinheit den einzelnen viel zu oft übersieht.
    Irgendwo beginnt jemand, leise für sich zu singen. Andere stimmen ein. Summend nur. Jeder kennt die Melodie, niemand aber kennt den Text des Liedes, das für die Menschen auf diesem Schiff zum wortlosen Klang ihrer letzten Hoffnung wird. Immer mehr Menschen stimmen ein, und fast wie von selbst erklingt an Deck der »MS Waterman«, begleitet von einer Klarinette, einer Geige, einem Akkordeon und dem leisen Grollen der Maschinen die Hymne Amerikas. - Der wohl seltsamste Chor, den Miss Liberty je gehört hat: Summend legt man alle Hoffnung und alle Zuversicht in diese Melodie, begrüßt die neue Heimat mit »ihrem« Lied, als könne man sich das Schicksal in diesem Land damit gewogen stimmen oder als könne man sich wenigstens selbst damit ein wenig Mut machen. Ungezählte zaghafte und doch hoffnungsfrohe Stimmen erheben sich zu einem sprachlosen Chor, während über New York der Tag erwacht und die »MS Waterman«, ein kleines Auswandererschiff, das schon bessere Tage erlebt hat, nach zehntägiger Fahrt, zum Teil durch schwere Stürme und unruhige See ihr Ziel erreicht und ich das Ziel meiner jugendlichen Träume: New York!

Das Tor zur Freiheit
    Den Klang der Hymne habe ich noch im Ohr, heute, zehn Wochen später. Auch an meine Gefühle bei der Ankunft kann ich mich noch gut erinnern: Euphorie, drängende Neugierde, unbändige Vorfreude. Nun, beinahe drei Monate später, zurück am Ausgangspunkt unserer Reise, wenige Tage vor der Rückfahrt, haben diese Gefühle sich verflüchtigt, sind einer gewissen Ratlosigkeit gewichen. Wir haben wohl alles in diesem Land gesehen, was es für Fremde zu sehen gibt, jedes Naturdenkmal, jede Stadt, die unser Interesse weckte. In unserem für 700 Dollar gekauften Ford Customline haben wir 17 000 Kilometer zurückgelegt, doch ob wir diesem Land auf die Spur gekommen sind? Ich weiß es nicht. Begeisternde Eindrücke und auch große Ernüchterungen. Doch anhaltende Neugierde. Herwig sieht es genau wie ich.
    »Vielleicht muß über unseren Erfahrungen erst Zeit vergehen, damit sie reifen können«, faßt er etwas hilflos zusammen, was wir beide nicht so richtig begreifen.
    Wir stehen wieder im Battery Park, an einem der Piers, dort, wo wir vor ungefähr zehn Wochen angekommen sind. Der laue Wind läßt kaum den beginnenden Herbst erahnen. Nur die Farben, die längeren Schatten, die kürzeren Tage zeugen untrüglich vom Voranschreiten des Jahres, dem vergehenden Sommer.
    Unsere drei Freunde und Reisegefährten sind bereits vor ein paar Tagen abgereist. Herwig und ich bleiben noch eine Woche. Herwig hat Freunde in Fort Wayne, die ihn für ein paar Tage aufnehmen werden. Er kann dort wahrscheinlich auch den Wagen wieder verkaufen. Für 400 Dollar. Seine Freunde haben das arrangiert. Für uns lebenswichtig.
    Wo ich in diesen Tagen bleiben sollte, stand bis vor ein paar Stunden noch nicht fest. Bis wir irgendwo bei Washington mitten auf der Autobahn Junius Chambers kennenlernten. Ein freundlicher junger, schwarzer Mann in unserem Alter, der sich durch die Aufschrift »Students from Austria and Marokko«, die wir auf unseren Wagen gepinselt hatten, für uns interessierte, minutenlang neben uns herfuhr, uns wilde Zeichen gab, das Fenster herunterzukurbeln,
durch den Fahrtwind brüllend, nach unserer Route fragte und vorschlug, an der nächsten Tankstelle rauszufahren, was wir dann auch taten.
    Bei einer Cola im Pappbecher unterhielten wir uns angeregt über Europa und über Amerika, über das, was wir in den vergangenen Wochen gesehen und erlebt hatten, die unglaubliche Strecke, die wir in nur vier Wochen zurückgelegt hatten; eigentlich vollkommener Irrsinn, der ihm gefiel. Und ehe ich mich’s versah, hatte er mich eingeladen, in diesen Tagen doch bei ihm und seiner Familie in Harlem zu wohnen, als wäre diese Einladung das Selbstverständlichste auf der Welt. Das sei überhaupt kein Problem. »If you come tomorrow evening, you will be welcome!« Seine Freunde und er würden sich meiner annehmen. Ich müsse mir überhaupt keine Sorgen machen.
    Das gleiche erklärte er seiner Mutter auch am Telefon, als er ihr aus einer Telefonzelle an der Tankstelle von mir und seiner Einladung erzählte: »Believe me! He’s okay! Yes …« Es entstand

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