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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Zeit, menschliches Strandgut, aus dem Meer der Geschichte an ihr Ufer gespült. Ein Augenblick des Innehaltens bei ihrem Anblick. Gänsehautgefühle, die auch Herwig und mich erfassen.
    Und vor uns, in der Ferne, auf der rechten Seite, die Brooklyn Bridge. Auf Dutzenden Bildern bestaunt. In ihrer gigantischen Größe doch auch fragil. Und direkt an ihrem Fuße, beinahe unter ihr, auf der Brooklyner Seite, dort muß das berühmte »River Café« sein, über das ich schon in so vielen Zeitungen gelesen habe, Treffpunkt der Reichen und Berühmten. Schon heute eine Legende. Einmal dort einen Kaffee trinken zu können, vielleicht Frank Sinatra oder Sammy Davis zu beobachten, wie sie, ohne den Hut abzunehmen, an der Seite schöner Frauen Whiskey schlürfen, schwärme ich in Gedanken. Für die anderen Reisenden zählen ganz andere Ziele.
    Einige werfen ihre letzten europäischen Münzen ins Meer. Tribut an das Schicksal. Man läßt nichts unversucht. Kein Atemzug in diesen Stunden ist bedeutungslos. Leben im Jetzt und Hier wie selten sonst. Man hat nichts als den Augenblick und ergreift ihn ganz. Nichts wird versäumt, nichts übergangen. Feier einer zweiten Geburt, dem Schicksal ausgeliefert, beinahe so wie damals, bei der ersten.
    Miss Liberty ist nun unmittelbar vor uns. Wir fahren scheinbar direkt auf sie zu. Der polnische Kellner hat sich zu uns gesellt. Schweigend, fast demütig blickt er der Hüterin der »Neuen Welt« entgegen, als wäre sie ein Orakel, eine Göttin, die es milde zu stimmen gilt. Fast ein wenig so, als könne ihr Wohlwollen oder ihre Mißachtung über sein Schicksal entscheiden.

    »Wissen Sie, was auf ihrem Sockel steht?« fragt er uns mit rauher Stimme und dem typischen polnischen Akzent. Wir schütteln den Kopf. Mit von der Arbeit und der Kälte des frühen Morgens geröteten Fingern holt er einen zusammengefalteten, ein wenig zerlesenen Zettel aus seiner Jacke.
    »Es ist ein Gedicht von Emma Lazarus. Meine Mutter hat es so sehr geliebt. Sie hat es auf Deutsch in irgendeinem alten deutschen Buch gefunden. Sie war Deutsche …« Er bekreuzigt sich, hält einen Augenblick inne, meint dann offenbar, erklären zu müssen: »Sie ist zwei Wochen vor Kriegsende umgekommen. Sie hat den Frieden nicht mehr erlebt, den sie sich immer gewünscht hat. Ein letztes Gefecht … Partisanen sollen sich irgendwo in der Nähe verschanzt haben. Eine Granate … ganz kurz vor dem Ende. Es war so sinnlos …« Er hält inne, bekreuzigt sich noch einmal. Er lächelt. »Sie hat immer das Gedicht gelesen, und dann haben wir uns ausgemalt, wie es sein wird, wenn wir nach Amerika gehen. Bald. Wenn der Krieg endlich vorbei ist. ›In Amerika liegt unsere Zukunft‹, hat sie immer gesagt, wenn alles zu schwer zu werden schien. Jetzt hoffe ich, daß es auch für mich eine Zukunft hat …« Er schluckt schwer, dann beginnt er zu lesen. Er liest die fremden Worte mit seinem polnischen Akzent und blickt doch kaum auf seinen Zettel:
    Schickt mir, die arm sind und geschlagen,
Bedrückte Massen, die’s zur Freiheit drängt,
Der Länder Abfall, elend, eingeengt,
Die Heimatlosen schickt, vom Sturm getragen
Zum goldnen Tor, dahin mein Licht sie lenkt!
    Eine Weile sehen wir Miss Liberty schweigend entgegen. »Glauben Sie, daß diese Worte wahr sind?« fragt der Kellner uns dann plötzlich leise. Und dann, nachdrücklich: »Glauben Sie an das Versprechen?«
    Herwig und ich sehen uns unsicher an, betrachten die unüberschaubare Menge von Menschen, die alles, was sie noch haben, auf dieses Versprechen setzen. Beklemmende Gedanken, die keiner von uns ausspricht.
    »Ja, ich glaube an die Kraft der Hoffnung in jedem einzelnen
Menschen«, sage ich schließlich ein wenig ausweichend und doch zutiefst davon überzeugt, daß ein Schicksal, das in die eigenen Hände genommen wird, gemeistert werden kann. Ich will es einfach glauben. Für den Kellner, für all die anderen auf diesem Schiff und ein wenig auch für mich selbst.
    Der Kellner drückt mir dankbar beide Hände. Tränen in seinen Augen. Verstohlen wischt er sie mit den Fingern weg. »Es ist nur der Fahrtwind«, murmelt er entschuldigend und wischt sich mit dem Ärmel seines Hemdes über seine Augen.
    Immer näher kommen wir ihr, immer deutlicher erkennbar das Antlitz jener Statue, das über alle Kulturen hinweg zum Inbegriff der Freiheit geworden ist, zur Verkörperung des Gedankens, der in unserem Jahrhundert zum vielleicht wichtigsten des Universums wurde. Majestätisch, erhaben,

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