Der Mann mit dem Fagott
Dank für den Moment der Leichtigkeit, den man den Passanten schenkt - an einem guten Tag.
Ich höre eine Weile zu, ganz allein, kratze ein paar Cents zusammen, werfe sie in seinen alten, abgeschabten Geigenkasten mit der von der Zeit verblaßten russischen Aufschrift, die ich natürlich nicht entziffern kann. Zu gern hätte ich den Mann nach seiner Geschichte gefragt, doch er ist so ganz und gar in sein Spiel versunken, daß ich ihn nicht stören, mich nicht mit lästigen Fragen aufdrängen möchte. So gebe ich mich mit der Erleichterung darüber zufrieden, daß es nicht der Mann mit der Geige ist, der vor wenigen Wochen mit uns auf der »MS Waterman« nach New York fuhr, schlendere weiter und stolpere beinahe über einen »Homeless«, der am Wegrand schläft. Der Körper des Obdachlosen vorzeitig gealtert, die Haut vergilbt, die Hände aufgerissen, im Sinn nur noch das Überleben, der Schutz des Bündels, auf dem er schläft, die paar Lumpen, die ihm alles bedeuten.
Wieviel Hoffnung braucht der Mensch, um weiterzuleben? Reicht es irgendwann aus, sich auf den nächsten Sonnenaufgang zu freuen, auf die Farben des Frühlings oder jene des Herbstes, das Gefühl von Sonne auf der Haut oder die nächste Ration Alkohol?
Wieviel Hoffnung braucht der Mensch, um sein Leben noch als sinnvoll zu betrachten? Kann Lebensglück irgendwann in einer achtlos weggeworfenen Zigarette bestehen, die man am Wegrand findet, in einer Dollarnote, die der Wind in den Weg weht oder in einem trockenen, warmen Schlafplatz für eine einzige Nacht?
Wieviel Hoffnung braucht der Mensch? Und wieviel in einer Stadt wie dieser, die so gnadenlos verschleißt: Sieger oder Verlierer, die letzteren werden weggewischt, sind keinen Gedanken wert.
Der Penner dreht sich ächzend um, zieht instinktiv seine Habe noch fester unter sich, ohne die Augen zu öffnen. Keiner der Passanten nimmt Notiz von ihm. Mitgefühl mit einem wie diesem kennt man kaum in diesem Land. Man glaubt fest an die Legende von der Chance, die jeder einzelne in seinem Leben hat. Wer sie nicht nutzt, endet eben am Wegrand. Kein Grund für einen verschwendeten Gedanken. Wenn es ihm dort nicht gefällt, müßte er ja nur aufstehen und einen anderen Weg für sich suchen, so scheint man hier zu denken. Wieviel Kraft irgendwann jeder einzelne Schritt kostet, wenn die Hoffnung klein geworden ist, die Selbstachtung nicht einmal mehr ausreicht, sich in seiner Schutzlosigkeit vor den eindringlichen Blicken Fremder zu verbergen und der Mut nicht einmal für einen Gedanken an morgen, das will man nicht einmal wissen.
Paradoxerweise schon gar nicht hier, im Battery Park, am heruntergekommenen südlichsten Zipfel der Stadt, vor den Augen der Freiheitsstatue, die weit, weit draußen im Meer steht, meistens von einer Wolke aus Dunst und Nebel geheimnisvoll eingehüllt und doch in Sichtweite. Gerade hier scheint man die Symbolkraft der Patronin für die Tat zu nehmen: Man glaubt mit patriotischer Inbrunst an die Prinzipien und Symbole, die man sich auf die Fahnen geschrieben hat. Man betet sie an, feiert sich selbst als »das einzige freie Volk«. Mehr ist nicht zu tun.
Vor ein paar Wochen habe ich selbst ganz oben im Kopf »Miss Libertys« gestanden, habe ungezählte enge Treppen erklommen in der Hoffnung auf einen unvergeßlichen Ausblick, der den Horizont erweitert. Statt dessen ließ sich nur durch schmale Öffnungen ein Blick nach draußen werfen. Alles schien unendlich weit in der Ferne zu liegen. Kaum etwas erhob sich aus dem Dunst. Schwindelgefühle, Enge und das Gefühl einer unüberwindlichen Distanz.
Ein Symbol, das sich in vielerlei Hinsicht selbst ad absurdum führt und das doch als Mahnmal einer Vision bis heute seine Berechtigung bewahrt hat.
Eine Fackel, die nichts entzünden, sondern die Welt erleuchten soll.
Ein Gesicht, das nach Ansicht des Bildhauers, der sie schuf, von »Strenge und Schmerz« geprägt sein sollte: Strenge und Schmerz, mit deren Hilfe Freiheit erlangt und bewahrt wird, aber auch Strenge, mit der sie herrscht. Schmerz, den sie zufügt - auch denen, die sie eigentlich schützen und aufnehmen sollte:
Bis vor zwei Jahren mußten die, »die arm sind und geschlagen« zu ihren Füßen die »Insel der Tränen« passieren, die berühmt-berüchtigte Einwanderungsstation auf Ellis Island, auf der begutachtet, für wertvoll befunden und aufgenommen oder für unwert, krank, unmoralisch erklärt und zurückgeschickt wurde: alleinstehende Schwangere, die als moralisch
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