Der Mann mit dem Fagott
gigantomanischen Verhältnisse an dieser Kreuzung. Lichtdome des Konsums. Vordergründig, deutlich, mit einer Direktheit, die ihresgleichen sucht:
Der Mensch als Zielgruppe, als Objekt zur Ankurbelung der Wirtschaft. Freiheit als Freiheit des Konsums. Deutlicher als hier kann es wohl nirgendwo auf der Welt dargestellt werden. Und in all der Aufdringlichkeit hat es doch auch etwas unendlich Faszinierendes. Die Strategien sind durchschaubar und wirken trotzdem. Blinkende Heilsversprechungen einer besseren Welt. Einfache Botschaften, einfache Antworten, Lösungen für alle nur denkbaren Probleme. Die Hare-Krischna-Jünger auf der anderen Straßenseite könnten wohl nirgendwo verfehlter wirken als ausgerechnet hier.
Und ausgerechnet hier kreuzen sich Konsum und Kunst: die 5 th Avenue und der Broadway, der ehemalige Kriegspfad der Ureinwohner, der einzige Weg, der aus dem Urwald Manhattans zur Südspitze der ersten Siedlungen führte. Die einzige Straße dieser Stadt, die aus dem klaren, geometrisch-rechtwinkeligen Rahmen fällt. Eine schräge, die akkuraten Rechtecke des Stadtplans schneidende Straße, ein Weg, der sich nicht ins Schema fügt, eine ganz eigene Ordnung. Und ausgerechnet hier die legendäre Heimat der wichtigsten Sprech- und Musiktheater und Kinos. Eine schönere
Symbolik für das »Querliegen« der Kunst läßt sich wohl nirgendwo anders auf der Welt finden.
Die aktuellsten Kinofilme, Shows, Stücke in einer Vielfalt wie wohl nirgendwo anders auf der Welt. Dicht an dicht. »Can-Can« und »The Threepenny Opera«, George Bernhard Shaws »Man of Destiny« neben Maria Schell in »The Last Bridge«. Audrey Hepburn, Gary Cooper und Maurice Chevalier in »Love in the Afternoon« neben Cary Grant, Frank Sinatra und Sophia Loren in »The Pride and the Passion«. »Romanoff and Juliette«, das neue Theaterstück von Peter Ustinov, neben John Osbornes »Look Back in Anger«.
Und dann der »Wintergarden« mit der Ankündigung, die mein Herz höher schlagen läßt - in riesigen Buchstaben, hoch über den Köpfen der Menschen: »West Side Story«! Schon der bloße Anblick dieser Schrift läßt mich fasziniert innehalten. Schlangen von Menschen, die bis an die nächste Ecke anstehen, um Karten zu bekommen. Immer wieder wird eine Information bis ans Ende der Schlange weitergegeben: »Jetzt bekommt man schon nur noch Karten ab Januar.«
Laufe durch die 50. Straße nach Osten, mitten durch das Rockefeller Center, vorbei an der »Radio City Music Hall«, dem größten Revue- und Filmtheater Amerikas. Revues, Shows, Kinofilme. Ein Palast der Unterhaltung, bewacht von Prometheus, dem rebellischen griechischen Gott, der gegen den Willen Zeus’ eine Fackel an den Strahlen der Sonne entzündete und den Menschen das Feuer brachte. In den frühen dreißiger Jahren, mitten in der Wirtschaftskrise, den Jahren der Inflation und Arbeitslosigkeit errichtet, waren selbst und gerade in jenen Jahren die Veranstaltungen auf Wochen hin ausverkauft. Not und Hunger waren vergessen, wenn das geheimnisvolle Licht der Shows und der Theater anging und die Wirklichkeit hinter dem Vorhang die triste graue Realität des Tages vergessen ließ. Das ewige Wunder der Kunst, das selbst in Katastrophen, in Kriegen, Elend und Verzweiflung den Menschen für Augenblicke neuen Mut, Hoffnung und Lebenskraft schenkt. Von der Butyrka, wo die Gefangenen gemeinsam mit meinem Großvater versuchten, die Katastrophe der Gegenwart mit Literatur, die sie zitierten, in den Hintergrund rücken zu lassen, bis nach Stalingrad, wo die Theater bis in die letzten Stunden spielten - neben Sterbenden
und dem größten, grausamsten und unvorstellbarsten Elend, das Menschen Menschen antun können. Ob im Gefängnis, Krieg oder Armut, das vielleicht wunderbarste Rätsel der Menschheit.
Zurück auf der 5 th Avenue, die ihr Gesicht hier, nahe dem Central Park zu einer Noblesse gewandelt hat, die schier unvorstellbar ist. Ein Reichtum, wie ich ihn noch nirgendwo sonst gesehen habe: Juwelierläden mit Schmuckstücken für hunderttausende Dollar im Schaufenster. Modedesigner, bei denen ich für mein ganzes Geld nicht einmal ein einfaches T-Shirt bekommen würde. Kaufhäuser, deren Luxus mich in ihren Bann zieht und gleichzeitig einschüchtert. »Saks«: funkelnde, glitzernde Lichter aus dem Innenraum. Ein livrierter Türwächter am Eingang. Einzutreten käme mir ohnehin nicht in den Sinn. Ich weiß genau, daß ich mir hier nicht einmal eine Seife als Mitbringsel für Gitta
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