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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Anzug angezogen, eine Krawatte angelegt, hatte meine erste Schallplatte dabei, »Es waren weiße Chrysanthemen«, und ein Tonband, das ich vor kurzem für den RIAS Berlin aufgenommen hatte. Das Repertoire, aus dem ich zur Zeit bei meinen Auftritten eben schöpfe. Soll ich reingehen, soll ich nicht? Bis Herwig ein Machtwort sprach: »Zu deiner Beruhigung: Ich habe dich für heute nachmittag angemeldet.« Allgemeines Gelächter über mein verdutztes Gesicht, dann trat ich ein.
    In der riesigen Empfangshalle erklärte ich einer höflichen Empfangsdame mein Anliegen. »Artist from Europe« und so. Freundliches Nicken, ein Anruf irgendwo im Gebäude, dann wurde ich nach oben geschickt. Achter Stock. Überall Bilder von Frank Sinatra und seinen Kumpels Dean Martin und Sammy Davis jr., dem sogenannten »Rat Pack« und Nat King Cole und all den anderen ganz Großen an den Wänden. Vor Ehrfurcht und Faszination wagte ich mich nur lautlos zu bewegen. Leises Gefühl von Scham für meine Mitbringsel. Wenn ich ehrlich bin, die »Weißen Chrysanthemen« gefallen ja nicht einmal mir selbst. Am liebsten hätte ich diese Platte irgendwo im Papierkorb oder zumindest hinter dem roten Sofa verschwinden lassen, doch es war zu spät.
    Ein Mann in Anzug, weißem Hemd und Krawatte und die freundliche Frage, ob ich der junge Musiker aus Europa sei. Welche Ausbildung, welche Auftritte, welchen Musikstil? Höfliches Nicken zu meinen Erklärungen. Beschämte Übergabe der »Weißen
Chrysanthemen«. Höflich-ratlose Entgegennahme und bei mir das bedrückende Gefühl tiefster Provinzialität. Man wünschte mir viel Glück, werde sich bei mir melden. »Bye, bye and good luck.« Ein paar Minuten mitten im Herzen »meiner« Musik und das deutliche Bewußtsein, wie weit ich selbst davon noch entfernt bin. Und die Ahnung, daß ich von »Capitol Records« natürlich niemals wieder etwas hören würde.
    Eine Gruppe bildhübscher Studentinnen, die mich anlachen, bringt mich in die Gegenwart zurück: New York, 5 th Avenue. Ich erwidere die freundlichen Blicke. Meine neuen Jeans scheinen zu wirken, denke ich mir und bewundere stolz mein Ebenbild im Schaufensterspiegel eines Gemischtwarenladens.
    Die Gegend wird langsam vornehmer, je weiter ich nach Norden komme. Bin auf Höhe der 16. Straße. Langsam gepflegtere Häuser. Doch auch hier Papier, das vom Wind getragen wird, weggeworfene Flaschen, schwarze, prall gefüllte Müllsäcke, Servietten, Reste von Hot Dogs, über die sich Tauben und Spatzen hermachen. In der Ferne Sirenen. Hupen. Verkehrslärm.
    Ein paar Schritte weiter ein alter, buntgekleideter Zeitungsverkäufer. Stapel von verschiedenen Blättern um ihn herum verteilt, mit großen Steinen beschwert. Ja, natürlich, Postkarten führe er auch. Ich kaufe eine mit der Skyline und eine von der Freiheitsstatue bei Nacht. Falls ich den Brief nicht schaffe, kann ich Gitta wenigstens wieder eine Postkarte schreiben. Erschrecke fast ein wenig, als ich auf den Zeitungen das Datum lese: schon der 27. September! Wo sind die Wochen geblieben? Fühle mich wie aus der Zeit gefallen. Soviel erlebt. Durch die Zeit gerast. Tag und Nacht unterwegs. Ist erst ein Tag vergangen, sind es schon fünf? Wo waren wir gestern? Wo vorgestern? Wo heute vor einer Woche? Durcheinandergeratene Chronologie. Noch nie zuvor so intensiv gelebt …
    Vor mir ein hohes, dreieckiges Gebäude. Reich verziert. Wegen der Bügeleisenform »Flatiron Building« genannt. Seltsame Thermik darumherum. Menschen mit zerzausten Haaren, Frauen mit hochgewehten Röcken. Angeblich kommen viele Männer nur deshalb hierher. Auch mich erfaßt, als ich vor ihm stehe, ein seltsam zerrender, heftiger Wind, der nach wenigen Metern wieder nachläßt. Hole meinen Kamm aus meiner Hosentasche, ordne meine Haartolle im Schaufensterspiegel eines Herrenausstatters.

    Drehe mich um und sehe, über Bäume hinweg blitzend, die Spitze des Empire State Buildings. Wie ein Richtpfeiler in den Himmel weisend. Das heimliche Zentrum der Stadt, vielleicht sogar der Erde? Ein flüchtiger Gedanke, genährt von den gewaltigen Dimensionen dieser Stadt.

Uptown Manhattan
    Ein überdimensionierter Kopf inmitten eines blinkenden Lichtermeers, Polizisten, Ampeln, Hupen. Rauchwolken steigen in rhythmischen Abständen aus dem Mund des Kopfes auf. Schwarzer Hut, kerniges Gesicht. Darüber, in riesigen Buchstaben: »Camel«. Der berühmte »Camel-Smoker« am Times Square. Eine überdimensionierte Installation, selbst für die ohnehin

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