Der Mann mit dem Fagott
ziehen, einen kleinen Obolus zu erhalten. Künstler neben Spinnern, Musiker neben Dichtern, Akrobaten neben Weltverbesserern.
Finde eine Bank, von der aus ich den Eingang des Plaza-Hotels überblicken kann. Leichte Nervosität: Was, wenn Herwig mit seinen Bedenken recht hatte? Was, wenn ich Junius Chambers irgendwie mißverstanden habe und wir uns verpassen oder was, wenn er gar nicht kommt? Immerhin habe ich ihm beinahe mein ganzes Gepäck mitgegeben. Wenn ich einem Betrüger aufgesessen bin, sind alle meine Sachen weg, und ich weiß nicht, wo ich in den nächsten Tagen bleiben soll. Vielleicht war ich wirklich mal wieder naiv. Versuche, mich zu beruhigen.
Viel wichtiger ist jetzt, daß ich endlich den Brief an Gitta schreibe. Das dünne Seidenpapier für den Luftpostbrief habe ich schon vor Tagen gekauft. Auch die Anrede steht schon da: »Meine liebe Gitta«, verwackelt auf irgendeiner Autofahrt geschrieben und dann nicht weitergewußt. Es ist wie verhext: Wenn ich an Gitta denke, wenn ich in Gedanken an sie schreibe, dann weiß ich immer so genau, was ich sagen möchte und wie ich es sagen möchte. Ich schreibe ihr die klügsten Briefe - in meinem Kopf. Doch wenn ich dann vor diesem fordernden Blatt Papier sitze, bin ich spätestens nach der Anrede rat- und sprachlos, und es scheint, als fürchteten alle Gedanken das Papier. Bestimmt liegt das an meinem schlechten Gewissen. Und an der räumlichen Distanz zwischen Gitta und mir: ein ganzer Ozean zwischen meinen Erfahrungen und Gittas Gegenwart. Die Brücken, die ich mit Worten zu bauen versuche, scheinen mir für diese Ausmaße allesamt lächerlich schwach und wenig tragfähig zu sein.
Ein Blick auf die Uhr und zum Vorplatz des Hotels. Es ist noch
zu früh, aber meine Nervosität steigt. Ob ich mir eine Telefonzelle und ein Telefonbuch suchen, Junius’ Telefonnummer ausfindig machen soll, nur für alle Fälle? Doch wer weiß, wie viele Chambers es in Harlem gibt. Vielleicht hat er mir ja auch einen falschen Namen angegeben. Aber nein, nein, nein, bestimmt ist er schon unterwegs.
Ich lehne mich zurück, versuche, den atemberaubenden Blick auf die Skyline vor dem Park zu genießen. Das typische amerikanische Stilgemenge zwischen modernen Bauten und nachempfundenen alten europäischen Epochen. Das typisch Amerikanische scheint nur in den gigantischen Ausmaßen der Gebäude zu liegen, als wolle man Originalität durch Größe übertrumpfen. Und irgendwie scheint es sogar zu gelingen. Im Höher, Größer, Stärker nachgeahmter europäischer Baukunst liegt eine seltsame Form von Eigenständigkeit. Vielleicht ist es das Nebeneinander von eigentlich Unvereinbarem, das dieses Land ausmacht. Und die Respektlosigkeit gegenüber dem scheinbar Unmöglichen.
Wenn ich mit Gitta jetzt hier säße, unter diesen Bäumen, vor uns die Einzigartigkeit dieser Stadt, würde ich Worte für alles finden, da bin ich mir plötzlich sicher. Vielleicht sogar für das, was ich mit Adrianne erlebt habe. Sie würde sogar das verstehen. Wenn sie mit mir hier säße, wenn wir diesen Anblick, diese Erfahrung gemeinsam hätten, wäre alles soviel einfacher. So aber scheitere ich in dieser Stadt der Stein gewordenen menschlichen Macht schon an dem kleinen Kieselstein vom Strand, um den sie mich gebeten hat. Worte auf einem kleinen Brief, der sie ohnehin erst nach meiner Rückkehr erreichen würde, scheinen mir da so kläglich zu versagen, daß ich das Blatt wieder einstecke. Statt dessen eine der beiden Karten. Die Skyline bei Nacht. Kitschig und beeindruckend gleichermaßen. Das Bild, das man zu Hause erwartet, und auch ein bißchen das, was ich aus einer anderen Perspektive gerade sehe. Ein kleiner Versuch, den momentanen Blick mit ihr zu teilen.
»Mein Liebes, die Tage hier sind so unfaßbar, daß ich in meinen Versuchen, sie dir zu beschreiben, immer wieder kläglich scheitere. Bald bin ich zurück, und dann machen wir uns eine wunderschöne Zeit, und ich erzähle dir alles. Ich bringe herrliche Platten mit. In Gedanken bei dir.« Ein in die letzte Ecke gequetschtes »Love, Udo«. Das muß für den Moment genügen.
Stecke die Karte in meine Tasche. Drüben beim Plaza-Hotel ist
ein Briefkasten. Werde sie nachher einwerfen. Wieder ein Blick auf die Uhr. Kurz vor sechs. Um sechs sind wir verabredet. Bin mir plötzlich ganz sicher, daß es Junius Chambers gar nicht gibt. Bestimmt war ich mal wieder zu vertrauensselig. Klar, ich bin auf einen Gauner reingefallen. Und neben den Schallplatten ist
Weitere Kostenlose Bücher