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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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auch mein bester Anzug weg. Sein Autokennzeichen habe ich mir natürlich auch nicht gemerkt. Wie lange soll ich abwarten, ehe ich etwas unternehme?
    Immer wieder stehe ich auf, um den Platz vor dem Hotel noch besser überblicken zu können. Dort trifft man alle möglichen Vorbereitungen für den 50. Geburtstag, den das Hotel in drei Tagen feiern wird; genau an meinem 23. Geburtstag. Ich habe jetzt keinen Sinn dafür. Kann nicht mehr stillsitzen. Bestimmt habe ich da wieder mal einen meiner gigantischen Fehler begangen.
    Nein, ich werde jetzt dreißig Sekunden lang nicht auf den Platz vor dem Hotel starren. Mindestens. Und dann … Ja, was dann? Zum Glück habe ich wenigstens meine Papiere und die wichtigsten persönlichen Dinge bei mir behalten. Und immerhin habe ich noch 12 Dollar.
    Quietschende Reifen. Gegen alle guten Vorsätze schaue ich auf - und sehe den alten grünen Ford, den ich sofort wiedererkenne. Ein junger Schwarzer steigt aus, blickt sich um, sieht mich, winkt mir lachend zu. Er ist es! Ich raffe meine Tasche zusammen und laufe los, dem Abenteuer Harlem entgegen.

»Take The A-Train«
    »Peggy the pig«, »I love you, Anne«, Wände, von bunten Farben bemalt: »Burt fucks Susan«, von einer entsprechenden Skizze untermalt. Daneben: »Motherfucker«, Strichmännchen, Gewaltszenen, Sex-Phantasien, aber auch Asphaltpoesie »Today is the first day of the rest of your life«. Sechsstöckige Backsteinhäuser, verrostete Feuerleitern, eingezäunte Basketballplätze, viele Mauern, wenig Grün, durchhängende Stromleitungen.

    Auf den ersten Blick eine deprimierende, öde Gegend. Gefühl von Eingesperrt- und Festgelegtsein, eine Umgebung, die keinen Ausblick bietet, die Träume einmauert, ein Viertel, das sich schon auf den ersten Blick schwer ertragen und offensichtlich kaum überwinden läßt. Kleine Fluchten auf Beton gemalt. Manchmal auch nur einzelne Namen, Namenskürzel, Zeichen von »Ich lebe noch«. Oder zumindest von »Ich habe hier gelebt«.
    Der erste Eindruck: Sichtbare Armut überall, an die ich mich auch nach drei Tagen noch nicht gewöhnt habe. Frage mich, ob man sich überhaupt jemals daran gewöhnen kann. Ein Gedanke, den ich Junius gegenüber verschweige. Sensible Bereiche. Möchte ihn nicht verletzen.
    Trotz der Armut und Betonwüsten Fröhlichkeit in den Gesichtern vieler Menschen. Ein irgendwie aufwühlender Gegensatz. Gedränge überall, Lärm, Musik, spielende Kinder, überall kleine Verkaufsbuden, Straßenhändler. Jemand verkauft selbstgemachte Einkaufsnetze. Ein Stand mit gebrauchten Büchern, fast nur Kinder und junge Erwachsene davor. Eine Ecke weiter drängen sich Dutzende um einen kleinen, schräg aufgeschichteten Verkaufsstand, in denen Obst in Kisten angeboten wird. Daneben Bananenschachteln, in denen dichtgedrängt Menschen wühlen. Ein alter, gebückter Mann sucht einen Käufer für ein einziges Bild: Sklavenbefreiung. In den bunten Farben der Hoffnung gemalt. Findet keinen Käufer. Zu teuer, wie Junius auf den ersten Blick sieht. »Wer hat schon dafür Geld!«
    Achtlos weggeworfener Müll, dazwischen ein Homeless; tot oder lebendig, es interessiert niemanden.
    »Don’t waste your time and risk your life!« zischte Junius mir eindringlich zu, als ich mich dem Mann nähern wollte. Vielleicht zieht er, wenn man sich über ihn beugt, eine Waffe und nutzt seine Chance. Ein abwegiger Gedanke bei diesem Häuflein Elend, doch mit Gefahren kennt man sich hier aus, also füge ich mich der Gruppe. Junius und fünf seiner Freunde, die mich seit meiner Ankunft hier begleiten. Allein läßt man mich nicht aus dem Haus. Sogar auf die Toilette in Lokalen werde ich von mindestens zwei meiner neuen Freunde verfolgt. Gewöhnungsbedürftig, aber es scheint nötig zu sein. Gesetze der Straße, für mich ebenso fremd wie undurchschaubar. Und unbegreiflich. »Wenn du deine eigene
Haut gefährdest, änderst du die Welt auch nicht.« Das leuchtet bei aller Härte ein.
    Der Homeless liegt nach drei Tagen immer noch reglos an derselben Stelle. Immer noch krampft sich alles in mir zusammen, als ich scheinbar achtlos an ihm vorbeigehe. Schiele nach seinen Augenlidern, meine, ein leises Zucken wahrgenommen zu haben, das mich beruhigt, obwohl es für diesen Mann vielleicht eine Erlösung wäre, dem Lebenskampf in dieser Stadt nicht länger ausgeliefert zu sein.
    Junius wohnt mit seiner Familie in einer etwas besseren Gegend: rote, saubere Backsteinhäuser mit großen Treppenaufgängen, wie ich sie aus

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