Der Mann mit dem Fagott
anderen Stadtteilen kenne. Der Vater ist Lokführer im berühmten »A-Train«, der den Süden Manhattans mit Harlem verbindet, die Mutter Hausfrau, ganz einfach und unspektakulär. Versuch von Normalität inmitten des Verfalls. Der ältere Bruder Medizinstudent in Kalifornien. Junius will Anwalt werden, studiert hier, in New York, an der renommierten Brooklyn Law School. Mit einem Stipendium. Hart erkämpft und erarbeitet. Er will seinen Weg machen, will ganz hoch hinaus. Als Schwarzer müsse man in diesem Land mindestens doppelt so gut sein wie als Weißer, um etwas zu erreichen. Erfahrungen, die schon ein wenig wie ein Klischee anmuten und doch so real sind wie die nach Rassen getrennten Trinkbrunnen und Toiletten und die Armeetruppen, die in Little Rock schwarzen Kindern den Zugang zur Schule erkämpfen. Doch noch bedrohlicher scheint die Wohnsituation. Baufällige Häuser, Mietskasernen mit Wucherpreisen. In manchen dieser Häuser teilen sich mehrere Personen im Acht-Stunden-Rhythmus die Zimmer. Man nutzt sie zum Schlafen, der Rest des Lebens findet auf den Straßen statt. Schichtarbeit, Schichtwohnen. Wie im Wien der Jahrhundertwende mit seinen »Bettgehern«.
Junius wettert bei jeder sich bietenden Gelegenheit über den Mietwucher, der solche Zustände möglich macht, hofft, wenn er erst Anwalt ist, mit derartigen Praktiken ein für allemal aufräumen zu können. Denke an das Gespräch mit Herwig, das wir auf der Überfahrt führten, an seine Zweifel an seiner Berufswahl, die Suche nach unserem Weg.
Warten vor einem halbverfallenen Laden, in dem es »Smoked Fish, Herrings and Pickles« gibt, auf »Papa Dandy«, einem von Junius’
Freunden. Warum er trotz seines sehr jugendlichen Alters diesen Spitznamen trägt, kann mir keiner sagen. Im Viertel ist Papa Dandy bekannt wie ein bunter Hund. Rote Jacke, spitze Schuhe, manchmal sogar mit Gamaschen, Krawatte, Sonnenbrille, weißer Hut, den er angeblich nicht einmal in der Kirche abnimmt. Immer gute Laune. Ein Original. Mit tänzerisch-swingenden Schritten kommt er die Straße entlang. Ritualisierte Begrüßungsgesten mit ausgestreckten, zurückgezogenen, wieder ausgestreckten Händen, wechselseitigem Einschlagen, an das eigene Ohr fassen. Für mich als Außenstehenden schwer zu durchschauen.
Ich werde freundlich mit Handschlag und »Hey, man, how is life?« begrüßt. Und der lachend gestellten Frage: »What are you doing with all those niggers around you?« Junius bekommt ein strahlendes »Hey, you black ass! Nice to see you!« zu hören. »Ass« und »Fuck« und »Nigger« scheinen gängige Begriffe innerhalb einer Clique zu sein. Verstehe bei weitem nicht alle Zoten, die in breitestem Amerikanisch ausgetauscht werden.
Ein heißer Spätsommertag. Wie immer werde ich in die Mitte genommen, von den anderen nach allen Seiten hin umringt und abgesichert.
Menschenmassen auf den Straßen. Gedränge überall. Heruntergekommene Hotdog- und Imbißbuden, vor denen Gangs von Jugendlichen herumlungern. Von der Decke der Buden herabhängende Wurstketten, girlandenartig drapiert. Wenige Schritte weiter, neben einem Geschäft mit Wühltischen und billigen Hemden im Sonderangebot ein einbeiniger und einarmiger Bettler, an eine Wand gelehnt. In der verbliebenen Hand einen Hut, den er Passanten mit leerem Blick entgegenstreckt, die Krücke unter den Arm geklemmt.
»World War Two«, antwortet Junius knapp auf meine Frage, warum hier, in Harlem, so viele Verstümmelte um ein Almosen betteln. Menschen, denen Gliedmaßen fehlen, manchen sogar beide Beine oder beide Arme, Menschen mit Augenklappe, Menschen, deren Kopf seltsam verstümmelt ist. Der Krieg ist gerade mal zwölf Jahre her. Man wollte weiße, unversehrte Veteranen, die man präsentieren kann. Siegertypen. Mit schwarzen, verkrüppelten ehemalige Soldaten läßt sich kein Staat machen. Im Dienst fürs Vaterland haben sie ihre Pflicht getan. Doch jetzt, im Frieden, hat
das Vaterland sie vergessen. So sind sie eben auf der Straße gelandet, ist Junius’ etwas bittere, lapidare Erklärung. Normalität einer abgehärteten Welt. Jeder ist sich selbst der Nächste. Zweckgemeinschaften in Gruppen, um die eigene Haut zu schützen. Nur gemeinsam ist man hier stark und überlebensfähig. Ohne eine Gang wäre man diesem Viertel hilflos ausgeliefert. Man würde nicht lange leben, formulierte Junius es drastisch und blieb dabei ganz ruhig. Eine Selbstverständlichkeit eben. Die Gang als Schutzschild. Hinter jeder Ecke kann Gefahr
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