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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Helm ein Stück weit - und plötzlich sehe ich den halben Kopf, der darin steckt: ein Klumpen Fleisch, dem das halbe Gesicht weggeschossen wurde. Das verbliebene Auge starrt uns an. Die Mädchen kreischen. Ich schlucke. Ein Junge kreischt nun einmal nicht. Kann meinen Blick nicht sofort abwenden. Laufe dann zum Wrack zurück, stolpere beinahe über irgendetwas Weiches am Wegrand. Es sieht aus wie ein Arm. Will es doch lieber nicht so genau wissen. Aus der Ferne nähern sich Sirenen, die irgendwo in der Nähe stoppen. Man kann die Stelle nur zu Fuß erreichen. Tatsächlich erscheinen unsere Soldaten von allen Seiten auf der Lichtung.
    »Haut ab!« herrschen sie uns unfreundlich an. Nicht einmal meinen frisch gelernten soldatischen Gruß erwidern sie, obwohl ich doch das Hemd trage! Sie rempeln uns unsanft zur Seite. »Macht, daß ihr wegkommt! Das ist nichts für euch!«
    »Es können jeden Moment noch Bomben detonieren!« ruft ein anderer seinem Kollegen zu.
    »Hier ist kein Überlebender!« schreit ein dritter, den ich nicht sehen kann. Bestimmt hat er gerade den Helm mit dem halben Kopf gefunden. Man riegelt das Gelände ab, drängt uns so weit ab, daß wir nichts mehr sehen können.
    »Sagt eurem Vater Bescheid«, gibt einer der Soldaten Joe und mir mit auf den Weg, »Ihr seid doch die Bockelmann-Buben, oder?« Wir nicken. Unser Vater ist Bürgermeister der Gemeinde.
Und als solcher muß er bestimmt irgendetwas unternehmen. Stolz über diesen wichtigen Auftrag machen wir uns auf den Weg zurück.
    »Ob das ein Jude war?« frage ich ein wenig schüchtern meinen älteren Bruder.
    »Was meinst du?«
    »Na, der Mann mit dem Helm.«
    »Was du immer für einen Blödsinn redest! Das war ein Tommy!« Joe radelt ein Stück vor. Er nutzt seine ganze Kraft und ist mir sofort so weit voraus, daß ich ihn nicht mehr einholen und mit ihm sprechen kann. Alles ging irgendwie so schnell, daß wir nicht einmal ein winziges Teil der abgeschossenen Maschine haben mitnehmen können, noch nicht mal einen einzigen Granatsplitter unserer Flak.
    Nachts ein Traum von Lärm in tiefen Oktaven, die sich nähern, immer lauter werden. Wenn das nicht aufhört, platzt bestimmt gleich mein Kopf. Keine Bilder, nur Farbeindrücke. Formen, Geräusche. Gefühl von großer Gefahr. Höre mich irgendwo in weiter Ferne schreien. Höre die Schreie nur indirekt, wie ein Echo meiner eigenen Stimme. Höre in all dem Lärm Worte, deren Sinn ich nicht verstehe. Sie kommen aus dem Radio. Und sie sind gefährlich. Ein ohrenbetäubender, gefährlicher Lärm, gegen den meine eigene Stimme nicht mehr ankommt. Ich muß den Lärm irgendwie aufhalten. Er droht mich zu überrollen wie eine überdimensionierte Walze, die sich immer schneller dreht und immer näher kommt und immer lauter wird. Irgendwo darin, ganz leise, die Stimme meiner Mutter. Ich kann sie nicht verstehen. Wenn nur dieser Lärm endlich aufhörte! Ich bin zu klein und zu schwach für diese Walze, die nur noch Zentimeter von mir entfernt ist.
    Schreiend und um mich schlagend wache ich in den Armen meiner Mutter auf, die mich im Bett aufgesetzt hat und mir sagt, daß ich in Sicherheit sei, daß mir gar nichts passieren könne. Ein verstohlener Blick in Joes Bett. Er schläft, wenn es mir auch ein Rätsel ist, wie er das schafft. Ich bin froh darüber, denn bestimmt würde er mich sonst morgen wieder hänseln. Mein Vater ist dazugekommen. Und vom Klang seiner warmen Stimme, die mir von Nils Holgerssohn auf dem Rücken der Wildgänse vorliest, schlafe ich wieder ein.

Das »Kleid des Führers«
    »Stillgestanden!« Der Befehl kommt bellend, wie alles, was ich in den paar Minuten seit meiner Ankunft beim allerersten Treffen meiner Jungvolkgruppe gehört habe. Ich gehöre jetzt schon fast zur Hitlerjugend, zu ihrer Vorstufe, der Deutschen Jugend, als Pimpf. Und ich gebe mir Mühe, es gut zu machen.
    »Reeeeechts um!« Ich drehe mich, wie es von mir erwartet wird.
    »Im Laufschritt - Marsch!« Wir rennen los.
    »Hinlegen!« Wir werfen uns auf den Boden.
    »Auf! Marsch - Marsch!« Wir stehen wieder auf, rennen ein paar Schritte.
    »Hinlegen!«
    »Auf! Marsch - Marsch!«
    Nach ungefähr 150 Metern ist die Wiese zu Ende. Noch etwa zwanzig Meter, dann hab ich’s geschafft. Der kleine Feldweg, der die Wiese begrenzt, erscheint mir wie eine Rettung: Dort kann ich mich endlich ausruhen. Doch daraus wird nichts. Kaum sind wir am Ende der Wiese angekommen, müssen wir wenden, und das Ganze geht in die andere Richtung

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