Der Mann mit dem Fagott
untersucht.
»Er hat bei einer HJ-Übung eine Ohrfeige bekommen«, erklärt mein Vater kurz.
»Diese Scheißkerle!« entfährt es dem Arzt, aller gebotenen Vorsicht zum Trotz. »Das war keine Ohrfeige, das war ein ganz brutaler
Schlag. Das Trommelfell ist buchstäblich zerfetzt«, meint der Arzt mit mühsamer Beherrschung, »da kann man nichts tun. Es muß von selbst wieder zuwachsen. Es wird lange dauern, und es werden Narben bleiben. Der Junge wird nie mehr sein vollständiges Hörvermögen zurückbekommen.«
Der Arzt hat es leise zu meinem Vater gesagt, aber ich habe seine Worte gehört.
Und plötzlich weiß ich nicht mehr, was schlimmer ist: dieser Schmerz, der mich langsam von innen zermürbt oder die Angst, nie mehr richtig zu hören. Was wird dann aus meinem Akkordeonspielen, aus der Musik? Das ist doch das einzige, was ich wirklich gut kann und was mich glücklich macht! Ich möchte mich am liebsten auf die Liege werfen und um mich schlagen vor Wut und Angst und Schmerz, doch statt dessen füllen sich meine Augen nur wieder mit Tränen und der Druck in meinem Ohr steigt. Der Arzt gibt mir irgendetwas, das die Schmerzen lindern soll. Meine Mutter soll mir warme Watte in das Ohr stecken. Und ich muß natürlich zu Hause im Bett bleiben, brauche Ruhe.
Verzweifelt ziehe ich zu Hause das neue Hemd aus, das mich ganz und gar nicht geschützt hat.
»Zu diesen Mistkerlen gehst du nie mehr hin!« hat mein Vater wütend im Auto zu mir gesagt. Ich habe genickt. Eine Mischung aus Erleichterung, da nicht mehr hinzumüssen und Enttäuschung über mein Versagen.
Irgendetwas stimmt nicht mit mir, denke ich. Irgendwie passe ich einfach nicht in diese Welt. Ich bin einfach nicht stark und tapfer und gesund genug, um meinem Land, meiner Familie, mir selbst Ehre zu bereiten. Was ist das nur für eine Welt, in der man immer so stark sein muß und so unverletzbar. Warum zählt es nicht, daß ich Musik machen kann, daß ich in meinen Gedanken wie ein Vogel fliegen kann, daß ich mir die herrlichsten Geschichten ausdenken kann, wenn ich auf meiner Wiese liege?
Wenn ich doch nur ein bißchen so wäre wie Joe. Er besteht jede Gefahr, und ich glaube, er kennt keine Angst: vor nichts und vor niemandem auf dieser Welt. Und ich habe ihn auch noch nie weinen gesehen. Auch wenn er manchmal ganz schön hart mit mir umspringt, er ist der tollste Junge der Welt.
Mutlos vergrabe ich mein Gesicht in meinem Kissen, und unter
hemmungslosem Schluchzen möchte ich am liebsten von dieser Welt verschwinden. Oder einfach ganz klein werden wie Nils Holgerssohn und auf dem Rücken der Wildgänse davonschweben. Aber diesmal klappt es nicht mit dem Fliegen in Gedanken. Mein Kopf ist einfach zu schwer. Die Schmerzen halten mich am Boden, in meinem Bett.
Eine kleine Amsel mit einem weißen Kopf ist an mein Fenster gekommen. Der weiße Kopf, eine Laune der Natur. Bestimmt ist es für sie auch nicht einfach, so anders zu sein. Sie sitzt am Fenster und sieht mich einfach nur an, putzt ihr Gefieder, sieht mich wieder an, pfeift nur einmal ganz leise. Ich liege ganz still, um sie nicht zu verscheuchen, und irgendwie scheint sie mit ihrer Leichtigkeit und ihrem Anderssein in diesen Stunden meine Verbündete zu werden. Verbündet gegen eine Welt, die laut ist und grausam und blutrünstig und die bleischwer an mir zerrt.
Vor der Flucht
21. Januar 1945. Sonntag am frühen Morgen. Jemand rüttelt an meinem Arm. »Aufwachen!« Die Stimme meiner Mutter. Ich begreife nicht.
»Aufwachen! Schnell!« Sie sagt es sehr energisch, und da wird mir klar, daß irgendetwas los ist. Ich fahre hoch. Joe murmelt etwas wie »Ich will schlafen!«
»Steht bitte auf, zieht euch an und kommt in die Küche. Wir frühstücken heute dort und müssen etwas Wichtiges mit euch besprechen.« Meine Mutter meint es ganz offensichtlich ernst, und mir wird bewußt, daß ich schon seit Stunden im Halbschlaf Unruhe im Haus gehört habe. Das Scharren von Stühlen, das Schleifen von Kisten oder Koffern oder ähnlichem. Manchmal auch leise Stimmen.
Eigentlich liebe ich den Sonntagmorgen. Wir kriechen dann immer noch zu unseren Eltern ins Bett, sie erzählen uns Geschichten. Zum Frühstück gibt es ein weichgekochtes Ei, das von meinem Vater
Löffel für Löffel geteilt wird. Später gehen wir alle spazieren oder Schlittenfahren mit dem neuen Bob, den mein Vater uns zu Weihnachten gemeinsam mit einem Tischler gebaut hat: eine Art Doppelrodel mit einem echten Autolenkrad. Zur Zeit unser
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