Der Mann mit dem Fagott
sich dick an, und sie scheint an der Seite geplatzt zu sein. Das schlimmste aber ist das Ohr. Ein heftiger Schmerz, wie ich ihn noch nicht gekannt habe. Jeder Windhauch scheint sich wie ein Messerstich durch mein Ohr in mein Innerstes zu bohren. Der Wind scheint direkt in meinen Kopf gepreßt zu werden. Und dabei höre ich alles nur noch dumpf. Sogar das Brüllen des Jungzugführers wird zu einem undeutlichen Rufen.
Ich sehe seine Stiefel direkt vor meinen Augen, hebe mit aller Mühe meinen Kopf, treffe mit meinen Augen auf seinen herablassenden Blick, als er an Alois gewandt zischt: »Bring diesen
Schwächling nach Hause! So einen Schlappschwanz können wir hier nicht gebrauchen!«
Alois gibt mir sein Taschentuch, damit ich das Blut abwischen kann. Ich bin zu geschockt für Tränen. Und ich spüre, daß Weinen die Schmerzen in meinem Ohr nur noch vergrößern würde. Jedes Geräusch ist nur noch ein peinigendes Stechen.
»Kånst hamgehn, wånn i da hülf?« fragt mich Alois in breitestem Kärntnerisch, ob ich mit seiner Hilfe nach Hause gehen kann. Bis nach Hause sind es fast vier Kilometer. Aussichtslos. Ich schüttle leicht den Kopf.
»Oba von då miass ma weg«, meint Alois. Von hier müssen wir weg. Dann fällt ihm das Gasthaus am Schattenhof ganz in der Nähe ein. »Wenn ma bis zum Schåttnhof kumman, ruaf i dein Våta im Schloß ån, und der kån di nåchher holn.« Wenn wir es bis zum Schattenhof schaffen, kann er meinen Vater anrufen, damit er mich abholt.
Langsam hilft Alois mir auf die Beine. Alles dreht sich um mich. Alois stützt mich, und Schritt für Schritt machen wir uns schweigend auf den Weg. Die Tränen laufen jetzt doch. Es sind stumme Tränen, kein lautes, verzweifeltes Weinen. Es sind auch Tränen der Scham: Schon wieder habe ich versagt. An meinem allerersten Tag beim »Jungvolk« bin ich kläglich gescheitert! Ich werde nie ein tapferer deutscher Junge sein!
Im Weggehen höre ich die anderen singen:
Wir kennen keine Klassen,
Nur Deutsche, treu geschart,
Der Weltfeind, den wir hassen,
Ist nicht von deutscher Art.
Wie ein Klang meiner Schmach verfolgt mich das »Hitlerjugendlied« weit auf meinem Weg, bis es schließlich immer leiser wird und verklingt.
Zum Glück ist im Gasthaus nicht viel los. Der Wirt ist sichtlich erschrocken, als er mich so sieht. »Was ist den mit dir passiert?« Doch ich finde in diesem Moment keine Worte, und Alois ist mit dem Kurbeln und Herstellen der Verbindung beschäftigt.
Der Wirt bringt mir ein Glas Wasser und einen nassen Lappen,
mit dem ich mein immer noch aus dem Ohr und aus der Nase sickerndes Blut abwischen und wenigstens die Lippe kühlen kann.
Endlich schrillt das Telefon. Ich höre es nur noch mit dem rechten Ohr. Es ist die Verbindung mit Ottmanach, doch es ist der Wirt, der meinem Vater erklärt, er solle jetzt keine Fragen stellen sondern seinen Wagen nehmen und so schnell wie möglich herkommen, um den Jürgen abzuholen. Wenigstens hat er nicht »Jürgi« gesagt, wie ich meistens genannt werde. Irgendwie mag ich den Namen Jürgen nicht besonders. Ich kann nicht sagen, wieso, aber »Jürgen« ist für mich der Inbegriff von Schwäche und Unbrauchbarkeit. Eigentlich heiße ich ja »Jürgen Udo«, aber so nennt mich natürlich keiner. »Udo«, das wäre ein richtiger Name, er hat etwas Kraftvolles, Selbstbewußtes, etwas Klares. Statt dessen nennt mich aber alle Welt »Jürgi« oder »Jürgilein« oder bestenfalls einfach »Jürgen«.
Mein Vater scheint erschrocken von meinem Anblick. »Wie ist denn das passiert?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich schäme mich so sehr, und ich habe so große Angst und so schreckliche Schmerzen. »Ich hab eine Watschen bekommen«, sage ich schließlich nur.
»Ich hab was falsch gemacht«, füge ich noch kleinlaut hinzu.
»Diese Wahnsinnigen!« Aufflackernder Zorn im Gesicht meines Vaters. Irgendwie ist das ganz fremd in seinem Gesicht. Aber er ist überhaupt nicht enttäuscht von mir. Eine kleine Erleichterung.
Über die Schotterstraße fahren wir mit unserem Steyr 100 nach Klagenfurt. Jeder Schlag des Autos ist ein bohrender Schmerz in meinem Kopf. Überall in der Stadt zerstörte Häuser, manche Trümmerhaufen qualmen noch. SS-Leute mit ihren schwarzen Ledermänteln auf Patrouille. Ich nehme es wie aus weiter Ferne wahr. Präsent ist nur noch dieser helle, kreischende Schmerz, das dumpfe Hören, meine Angst, mein Versagen.
»Wie ist denn das passiert?« Die Frage des Arztes, während er mich
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