Der Mann mit dem Fagott
von vorne los. Und dann wieder und wieder. Meine Lungen brennen, meine Beine schmerzen. Und auch mein neues Hemd wird ganz schmutzig. Ich kämpfe wie ein Mann mit mir selbst, doch trotzdem bleibe ich weit hinter den anderen zurück.
»Aufschließen, Marsch, du Pfeife!« schreit der Jungenschaftsführer in meine Richtung. Ich gebe mir alle Mühe, doch er beachtet mich gar nicht weiter. Zum Glück. Hinlegen, aufstehen, rennen. Hinlegen, aufstehen, rennen. Die Kommandos gibt er nun nur noch mit der Trillerpfeife, die an einer rot-weißen Schulterkordel, dem Erkennungszeichen des Jungenschaftsführers, hängt. Das hatte ich mir wirklich irgendwie anders vorgestellt. Doch bestimmt kommt der schöne Teil noch mit gemeinsamem Singen und Lagerfeuer im Wald und all so was. Schließlich hab ich mich schon seit einer Ewigkeit darauf gefreut!
Inzwischen ist noch ein HJ-Mann dazugekommen. Er ist mit seinem Motorrad bis auf die Wiese gefahren und beobachtet uns.
Das Kennzeichen stammt aus Spittal an der Drau, das ist ganz schön weit von uns weg. Dort ist irgendeine Kommandozentrale der HJ.
Der Mann trägt die grünen Kordel des Jungzugführers und einen schwarzen Lederriemen quer über die Brust. Ein bulliger junger Bursche mit versteinertem Gesicht. Er ist etwa vier oder vielleicht fünf Jahre älter als unser Jungenschaftsführer. Vermutlich achtzehn oder zwanzig Jahre alt.
Der Mann pfeift laut auf seiner Trillerpfeife.
»Stillgestanden!« ruft unser Jungenschaftsführer. Ein wenig Atem holen, was schwierig ist bei der angespannten Haltung, die wir bei diesem Befehl einnehmen müssen. Hände an die Hosennaht.
Der wichtige junge Mann schreitet unsere Reihen ab. Offensichtlich gefällt ihm nicht, was er da sieht: dieser lächerliche, karg uniformierte Haufen von uns Pimpfen, diese bunt zusammengewürfelten Uniformen, die wir tragen.
»Rührt euch!« Wir dürfen wieder lockerer stehen. Trotzdem weicht die Verkrampfung und Anspannung nicht aus meinem Körper.
Der Mann wird uns vorgestellt. Es sei eine große Ehre, daß er uns heute besuche, wie es überhaupt eine große Ehre für uns sei, zur Deutschen Jugend zu gehören, eine Elite, der wir uns als würdig erweisen sollen.
Wir üben das Begrüßen, den soldatischen- und den Deutschen Gruß. Der Jungzugführer scheint immer ungeduldiger mit uns zu werden. Auch das Zusammenschlagen der Hacken im gleichen Augenblick will einfach nicht klappen. Es müßte ein entschlossener Knall von allen Schuhen sein: Stillgestanden - Zack! Gleichzeitig und exakt. Bei uns aber ist es eine zögerliche Folge von kleinem Geklapper.
Der Jungzugführer stellt sich vor mich hin. Er mustert mich von oben bis unten. Ich stehe stramm, blicke an ihm vorbei, wie es Vorschrift ist.
»Vortreten!« brüllt er mich schließlich an.
Ich gehorche.
»Die HJ duldet keine Nachlässigkeiten!«
Ratlos sehe ich ihn an, weil ich nicht weiß, was ich falsch gemacht
habe. Und dabei darf man das nicht: einen Ranghöheren direkt anschauen, das muß ich eigentlich schon wissen.
»Blick geradeaus!« ruft er auch gleich, und ich gehorche erschrocken. Er schreit: »Ein Schuh, der nicht ordnungsgemäß zugebunden ist, schadet dem Ansehen der Truppe. Er kann im Ernstfall eine ganze Einheit in Gefahr bringen! Und wie siehst du überhaupt aus, du Hanswurst? Dein Hemd ist aus deiner Bauernhose gerutscht!«
Irritiert blicke ich nur einen kleinen Augenblick lang an mir hinunter. Die Lederhose mit dem Latz, natürlich ohne Gürtel, die einzige kurze Hose, die ich habe, hält das Hemd ohnehin kaum. Und bei den Übungen konnte ich auf den Sitz meiner Kleidung beim besten Willen nicht mehr achten. Betreten möchte ich mein Dilemma erklären, murmle irgendetwas wie: »Entschuldigung, das ist nur weil …«
Doch ehe ich den Satz zu Ende gebracht habe, fühle ich einen Schmerz, der mir den Atem raubt. Mein Kopf scheint zu explodieren. Ich habe den Schlag nicht kommen sehen. Er traf mich unvorbereitet und mit aller Wucht. Ich spüre den Schmerz, spüre, wie mein Körper zu Boden geschleudert wird, spüre noch das Aufschlagen, dann wird es dunkel um mich.
Als ich wieder zu mir komme, kniet Alois aus meiner Bank neben mir. Die anderen haben ihre Übungen fortgesetzt.
»Aufstehen!« brüllt die Stimme des Jungzugführers von irgendwoher, doch ich kann nicht. Mein Kopf schmerzt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Aus meiner Nase und vor allem aus meinem linken Ohr läuft Blut. Blutgeschmack auch in meinem Mund. Meine Lippe fühlt
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