Der Mann mit dem Fagott
Lieblingsspielzeug, und sonntags tollen wir damit herum. Doch mir ist klar, daß dieser heutige Sonntag nicht so sein wird, und es beunruhigt mich.
Alle scheinen heute so früh morgens schon auf zu sein. Es sind nicht nur die Stimmen meiner Eltern, die ich höre, sondern auch die von unserem Kindermädchen Hilde, die aus Lüneburg über Onkel Gert zu uns vermittelt wurde, um bei uns ihren Pflichtdienst zu absolvieren, von Sophie, unserer Köchin, und ihrem Mann, unserem Verwalter Karl Schindler. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht, denn mein linkes Ohr ist immer noch mit Watte verstopft. Seit der Ohrfeige des Jungzugführers habe ich Tag und Nacht Ohrenschmerzen. Eine Mittelohrentzündung folgt auf die andere, und ich frage mich, ob das ewig so weitergeht. Das ständige Kranksein, das schlechte Hören hat auf meine Verfassung geschlagen. Ich bin noch dünner als sonst, kann nur wenig in die Schule gehen, bin noch ängstlicher - und trauriger.
Das Zimmer ist kalt, als ich aus dem Bett steige. Ein Blick in Manfreds Bett. Er schläft mit einem Lächeln auf den Lippen und neben den Kopf gestreckten Armen. Manchmal beneide ich ihn um seine Ahnungslosigkeit. Niemand erwartet mit seinen eineinhalb Jahren etwas von ihm, nichts muß ihm Sorge bereiten.
»Glaubst du, es ist etwas Schlimmes?« frage ich Joe, doch der zuckt nur mit den Schultern.
»Wir werden’s ja gleich erfahren.« Er gähnt.
Im Eßzimmer sind alle Möbel von weißen Tüchern bedeckt. Im Damenzimmer ist Hilde gerade dabei, ein Tuch über das Klavier zu legen.
»Guten Morgen. Eure Eltern warten in der Küche«, sagt sie ungewohnt knapp und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. In der Diele stehen irgendwelche Gepäckstücke.
In der Küche riecht es nach Muckefuck, dem billigen Kaffee-Ersatz, den wir sonntags immer trinken; wir Kinder bekommen nur einen kleinen Schluck davon ab, für uns gibt es eigentlich warme Milch. Echten Kaffee gibt es schon lange nirgends mehr. Ich kann
mich aber noch an den herrlichen Duft erinnern und würde das so gern mal wieder irgendwo riechen.
Sophie ist dabei, alles vorzubereiten. Sie hat nachts ein paar Laibe Brot gebacken. Es gibt sogar unser geliebtes Frühstücksei.
»Stellt jetzt keine Fragen. Wir alle verreisen, und zwar noch heute«, beginnt mein Vater behutsam aber eindringlich. »Eure Mutter und ich haben uns das lange überlegt. Kärnten ist nicht mehr sicher genug für euch. Wahrscheinlich wird es bald ein schlimmes Kampfgebiet werden. Und durch die Nähe zu Jugoslawien werden vermutlich die Russen zuerst hier sein. Und was das bedeutet, das wißt ihr ja. Es geht jetzt darum, euch zu retten. Von den Russen in einem Schloß vorgefunden zu werden, kann tödlich sein. Wir versuchen, irgendwie zu Onkel Gert auf das Gut Barendorf durchzukommen. Es ist so gut wie sicher, daß dort, in Norddeutschland, die Engländer die Besatzer sein werden.«
»Was heißt Besatzer?« will Joe wissen.
Unser Vater schaut ganz ruhig erst meinen Bruder an, dann mich. »Besatzer, das heißt, daß Deutschland von den alliierten Truppen besetzt werden wird, und hier in Kärnten werden das wahrscheinlich die Russen sein, in der Lüneburger Heide vermutlich die Briten.« Wir sehen ihn ratlos an, und er merkt offenbar, daß er noch mehr erklären muß. Er braucht einige Augenblicke, um sich dazu durchzuringen, dann sagt er mit bemüht fester Stimme: »Wenn wir schon so offen miteinander reden: Der Krieg wird in ein paar Wochen oder Monaten zu Ende sein, und es gibt keinen Zweifel - er ist für Deutschland verloren.« Er hält einen Augenblick inne, und ich habe das Gefühl, er hat diese Worte selbst zum ersten Mal ausgesprochen und ist fast geschockt von ihrem Klang.
»Bis es soweit ist, dürfen wir alle das natürlich nirgends sagen. Das wäre lebensgefährlich«, fügt er schließlich noch hinzu.
Und meine Mutter sagt in die entstandene Stille betont sachlich: »Wir haben schon beinahe alles gepackt. Keiner von euch geht heute mehr aus dem Haus. Wir packen jetzt noch eure Sachen, und dann machen wir uns auf den Weg. Wir müssen früh genug am Bahnhof sein, damit wir überhaupt eine Chance haben, Plätze in einem Zug zu bekommen. Keiner weiß, wann Züge gehen, aber wir haben gehört, heute nacht oder morgen ganz früh soll es eine Möglichkeit
geben, zumindest mal ein Stück voranzukommen. Dann sehen wir weiter.«
»Dürfen wir uns denn von unseren Freunden verabschieden?« frage ich ahnungslos.
Ein entschiedenes »Nein!« von meinen
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