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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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könnte! Wenn er doch nur heute zu Hause geblieben, mit den Jungs gespielt hätte, dann wäre das alles nicht passiert! Wieso mußte Mischa diesen sinnlosen und aberwitzigen Kriegstod sterben - mitten im Frühling des ersten Friedensjahres? Wieso hatte er es nicht verhindern können?
    Mischas kleiner Körper liegt in einem der Betten, die Augen geschlossen, die Hände über der Bettdecke gefaltet. Das bleiche Gesicht ist unverletzt. Es spiegelt sich kein Entsetzen über das darin, was der Junge zuletzt gesehen und durchgemacht haben muß. Es gibt Werner ein bißchen Hoffnung: Vielleicht ging ja alles schnell, und er hat wenigstens nicht leiden müssen.
    Rita stürzt zu ihrem toten Sohn, legt ihren Kopf an seine Wange.
    Werner nimmt sie sanft beiseite.
    »Er ist tot«, sagt er leise und kann die Worte selbst nicht fassen, die er da ausspricht. Rita nickt, weint an seiner Schulter. Werner begreift nicht, daß er selbst keine Tränen hat. Die Erschütterung ist zu groß für Tränen, und die Angst um Andrej lähmt ihn.
    Man hat inzwischen den Unfallhergang rekonstruiert: Gemeinsam
mit zwei Nachbarskindern haben Mischa und Andrej im Garten der Dienstvilla gespielt. Mischa habe die Flakgranate entdeckt. Walter, der siebenjährige Nachbarsjunge, Sohn eines Offiziers, habe wohl, um mit seinem Wissen zu prahlen, ein wenig nebenher gesagt: »Wenn man da draufhaut, knallt’s.« Mischa war sofort fasziniert und nicht mehr zu halten gewesen. Alles, was knallt, was mit Bomben, Granaten, Gewehren zu tun hat, hat ihn immer schon begeistert. Die Gefahr habe er, wie die meisten Kriegskinder, die das ständige Knallen um sich herum gewöhnt waren, nicht wirklich ernstgenommen. Er habe immer neue Steine angeschleppt und mit ihnen auf die Granate geschlagen, habe seinen kleinen Bruder und die Nachbarstochter aufgefordert mitzumachen. Walter habe große Angst gehabt, aber zuerst sei gar nichts passiert. Walter habe dann sogar die Granate aus dem Garten geschleudert, und auch dabei sei sie nicht explodiert. »Jetzt ist Schluß«, habe er zu Mischa gesagt, aber der sei losgelaufen und habe die Bombe zurückgeholt und weiter draufgeschlagen.
    »Du hast gesagt, es knallt, und jetzt will ich das auch hören, oder du bist ein Lügner!« habe er verkündet. Und dann hätte es auch schon »geknallt«.
    Danach kann Walter sich an nichts mehr erinnern. Er selbst hat eine schwere Wunde am Bein, seine Schwester wird gerade operiert, aber sie sind beide nicht so schwer verletzt wie Andrej oder Mischa.
    Retter, die schnell zur Stelle waren, haben Mischa beinahe unansprechbar auf dem Boden liegend vorgefunden. Andrej hingegen sei mit seiner klaffenden Bauchwunde schreiend herumgelaufen, habe deutlich gezeigt, daß er um sein Leben kämpfen werde, was den Eltern Hoffnung sein soll.
    Wieviel Zeit vergangen ist, seit er von der Katastrophe erfahren hat, dafür hat Werner kein Gefühl. Er weiß nicht, wie lange er jetzt hier schon wartet, wie lange Andrej schon operiert wird. Er setzt sich hin, starrt ins Leere, denkt daran, wie Mischa heute morgen noch davon sprach, einen Brief an seinen Onkel Johnny ins russische Lager schreiben zu wollen, einen Onkel, den er nie gesehen hat und nun auch nie mehr kennenlernen würde. Und daran, wie Mischa ihn fragte, wie man wisse, was man im Leben werden wolle und an seine eigene Antwort, das werde die Zeit weisen. Und er
denkt daran, daß Mischa nun der erste sein würde, der auf der Grabstelle auf dem Friedhof neben dem Gut Barendorf liegen würde, die Anna gerade gekauft hatte.
    Stunden später in Andrejs Krankenzimmer. Überall Schläuche, Verbände. Nur manchmal wacht der Junge für Sekunden auf, öffnet die Augen, murmelt: »Ich hab Durst« und dann »Mischa ist ein Engel. Ich habe gesehen, wie er in den Himmel geflogen ist.« Dann schläft er wieder ein. Man hat ihm noch gar nicht gesagt, daß sein Bruder tot ist. Werner kann es nicht fassen. Wieso weiß der Junge das?
    Irgendwann ein kurzer Besuch zu Hause. Mechanisches Umziehen, sich waschen, ein paar Atemzüge lang sogar schlafen - um beim Erwachen mit tiefer Verzweiflung zu spüren, daß das Schreckliche seines Alptraums die Wirklichkeit war. Er soll für Rita und für Andrej ein Familienbild mitbringen, greift gedankenlos zu jenem Photo am Schreibtisch, das Rita und ihn selbst mit den beiden Söhnen zeigt, hier im Garten aufgenommen, nur ein paar Wochen vor Mischas Tod. Und seine eigene Hand, die Mischa umarmt, liegt wie zum Schutz genau auf der Stelle, in

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