Der Mann mit dem Fagott
heimlich: »Jetzt bist du satt!« - »Jetzt bist du satt!« Ich spüre, daß mir langsam die Tränen der Verzweiflung und der Wut aufsteigen, aber nur wenige Minuten nachdem er zu essen begonnen hat, geschieht das völlig Unvorstellbare. Es verschwindet auch noch der letzte Rest Bratkartoffeln in Manfreds Mund.
Glücklich erklärt er dann: »Fertig! - Matoffeln gut!« und legt die Gabel beiseite. Fröhlich wartet er darauf, daß jemand ihn zurück in sein Ölfaß auf der Ladefläche hebt. Hungrig, mit hängenden Köpfen und frustriert wie selten steigen wir anderen zurück auf den Lastwagen und machen uns wieder auf den Weg durch die kalte, klamme Nacht. Wenigstens eine Scheibe trockenes Brot ist für jeden von uns übriggeblieben.
14. KAPITEL
Schloß Ottmanach und Klagenfurt, 30. September 1946
Die Nürnberger Prozesse
Der Duft meines Vaters nach Kölnisch Wasser umfängt mich, als ich in meinem Sonntagsanzug ins Herrenzimmer komme. Mein Vater benutzt es nur an Feiertagen - oder zu ganz besonderen Anlässen, und ich habe schon als kleines Kind diesen Duft dafür geliebt, daß er mir die besonderen Tage untrüglich verkündet hat.
Daß wir das alles, den Krieg, die erste schlimme Besatzungszeit, die lange Trennung von zu Hause und von meinem Vater, diese gräßliche Rückfahrt auf dem offenen Lastwagen jetzt hinter uns und irgendwie überstanden haben, kann ich manchmal noch gar nicht begreifen. Hier ist alles noch ganz neu und dabei doch wunderbar vertraut für mich, wie der Duft nach Kölnisch Wasser an meinem Vater. Es hat sich kaum etwas geändert, sogar mein Akkordeon ist noch da, und ich kann wieder in meinem geliebten Erker im Herrenzimmer von Schloß Ottmanach stehen und auf den Hof mit den alten Kastanien schauen und einfach ganz bei mir selbst, ganz daheim sein.
Es ist mein zwölfter Geburtstag, und das ist ein ganz besonderer Tag, denn heute morgen beim Frühstück hab ich statt eines Päckchens mit buntem Papier und Schleifen einen kleinen Umschlag auf meinem Platz vorgefunden. Und darin waren - ich kann es immer noch kaum glauben - vier Karten für das Klagenfurter Stadttheater. Für heute abend! Lehars »Das Land des Lächelns«. Mein allererster Theaterbesuch! Ich kann es noch immer kaum fassen und bin vor Aufregung ganz zappelig.
»Klagenfurt ist natürlich nicht Moskau, das Stadttheater ist nicht das Bolschoj und ›Das Land des Lächelns‹ ist nicht ›Schwanensee‹«, hat mein Vater lächelnd erklärt, als er meine Spannung und unbändige Vorfreude gespürt hat. »Aber wir werden einen schönen Abend erleben, das verspreche ich dir.« Als ob es daran je einen Zweifel gegeben hätte!
Nur langsam bekomme ich wirklich Angst, daß wir zu spät kommen könnten. Meine Mutter denkt offenbar gar nicht daran, sich vom Radio loszureißen, aus dem unter Pfeifen, Rauschen und Quietschen bei BFN, »British Forces Network«, die Urteilsverkündung der Nürnberger Prozesse übertragen wird. Sie hat ihren Stuhl direkt davor gestellt und beugt sich in ihrer Abendkleidung ganz nah an den Lautsprecher, damit ihr nur ja nichts entgeht.
Joe ist auch noch nicht fertig. Er kämpft seit einer Ewigkeit mit seiner Krawatte. Wir wollen mit dem heutigen Abend auch seinen Geburtstag nachfeiern. Vor knapp zwei Wochen, als er fünfzehn wurde, saßen wir auf diesem schrecklichen Lastwagen, irgendwo unterwegs durch das Land, und natürlich hat den Tag damals niemand besonders gewürdigt.
»Papi, wie spät ist es denn? Wann gehen wir denn endlich los?«
Mein Vater lacht. Mit einer gespielt großen Geste nimmt er die Taschenuhr aus der Weste. Erst seit heute trägt er sie wieder. Er hält sie mir lächelnd entgegen, und wir spielen das Spiel einer verloren geglaubten Zeit: »Puste, Junge! - Das war ja noch gar nichts! - Fester!«
Ich puste, wie von Zauberhand springt der Deckel auf, und es summt und bimmelt und klingt.
»Mensch, bist du nicht langsam zu alt dafür?« hänselt mich Joe, als er endlich mit akkurat gebundener Krawatte hereinkommt.
»Nein, dafür werde ich nie zu alt sein«, gebe ich zurück.
»Wie wär’s, Jungs, wenn wir heute einfach alles hinter uns lassen und uns einfach einen schönen Abend machen, als gäbe es nur die Welt des Theaters und keine andere«, schlägt mein Vater uns vor und wendet sich an meine Mutter am Radio. »Und willst du uns nicht langsam auch Gesellschaft leisten?«
»Gleich! Psst! Einen Augenblick noch.«
Meine Mutter hört noch einige Minuten lang dem Radio zu, dann
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