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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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sitzen, gehört haben und sie die Blicke nach mir wenden läßt.
    Joe gibt mir einen Tritt, und ich spüre, wie ich rot werde, aber im Grunde ist mir das alles völlig egal, denn während ich da so sitze und der Musik lausche, fühle ich, daß das, was ich da erlebe, mir in irgendeiner Weise, die ich noch nicht ganz verstehe, eine Antwort auf etwas gibt, das ich immer in mir gespürt habe und doch nicht erklären kann. Meine ganzen seltsamen Gefühle, mein Anderssein bekommt in diesem Augenblick für mich plötzlich irgendwie einen Sinn - so lange nur die Lichter nicht verlöschen und dieser Klang nicht aufhört! Und ich weiß, daß ich alles dafür tun muß, daß das nicht geschieht.
    Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, aber ich weiß plötzlich ganz genau, daß der einzige Weg für mich, um mich vor meiner Schwächlichkeit und dem Verspottetwerden und Problemen mit den Hausaufgaben und den Alpträumen und Ohrenschmerzen - und vielleicht sogar vor Fliegeralarm und dem Anblick von Erschießungen und Kettenrasseln und abstürzenden Flugzeugen zu schützen, darin liegt, dieses Licht, diesen Klang, diese Vollkommenheit, die ich gerade erlebe, für immer fortdauern zu lassen. Wenn mir das gelingt, wird mir die Wirklichkeit, in der Kinder von Blindgängern getötet werden und alles zerstört ist und man Tage in Hunger und Kälte auf einem offenen Lastwagen verbringt
und überall Menschen sieht, die betteln, und in der es so viele gibt, die meinem Vater oder meinem Onkel Johnny oder Millionen anderen Unrecht und Schmerz zufügen, nie mehr etwas anhaben können, das fühle ich plötzlich ganz deutlich. Diese Dinge werden dann einfach hinter mir liegen. Ich werde ihnen dann nie mehr ausgeliefert sein.
    Der schwere, dunkelrote, geheimnisvoll schimmernde Vorhang, der die Bühne vom Zuschauerraum trennt, scheint mir das Tor zu einer anderen - besseren, einfach vollkommenen - Welt zu sein.
    Ich kämpfe gegen die Tränen. Was soll Joe nur über mich denken, wenn er das merkt? Man weint doch nicht, weil etwas so schön ist, oder etwa doch?
    Jedenfalls weiß ich in dieser Stunde: Nichts wird mir jemals im Leben wieder so wichtig sein wie dieses Gefühl, das steht mir mit einer Klarheit vor Augen, die mich fast ein bißchen erschreckt. Und auch Joe spürt anscheinend, daß etwas in mir vorgeht, und er sieht mich nur noch erstaunt, aber gar nicht mehr zynisch an und scheint fast ein bißchen Respekt vor mir zu bekommen.
    »Möchtest du vielleicht auch Sänger werden und auf großen Bühnen auftreten?« fragt Joe mich auf dem Rückweg ganz ernsthaft, und er legt mir die Hand auf die Schulter. So etwas hat er noch nie gemacht.
    Ich schüttle den Kopf. Was für eine seltsame Idee! Daran hab ich überhaupt nicht im entferntesten gedacht. »Nein, ich will doch nicht singen «, gebe ich zurück. »Ich möchte die Musik schreiben , die so wunderschön strahlt und die von so einem tollen Orchester gespielt wird.
    »Ich möchte komponieren«, füge ich leise hinzu, und ich sehe mich im Geiste an meinem Klavier auf der Bühne sitzen, irgendwo am Rand, umgeben von meinen Tönen, die von einem großen Orchester gespielt, vielleicht auch von Sängern gesungen werden. Das Spiel meines Klaviers mischt sich mit allen Klängen des Orchesters, Klängen, die mich in ein weiches, buntes, wunderschönes Licht tauchen und abheben lassen.
    Sänger sind für mich austauschbar, und sie imponieren mir, wenn überhaupt, nur dann, wenn sie das, was sie singen, auch komponiert haben, aber von solchen habe ich noch nie etwas gehört. Und Pianisten spielen ja immer nur das, was andere geschrieben
haben. Das interessiert mich eigentlich auch nicht. Ich will selbst all das in Töne fassen, was ich fühle, und es so zu einer neuen Schönheit und Klarheit führen und in meinen Gefühlen endlich von der Welt verstanden werden. Ich möchte Melodien komponieren, die so richtig große Gefühle auslösen. Ich möchte Musik für Filme und für das Theater schreiben. Ich möchte Lieder schreiben, die die Menschen singen und auf dem Weg zur Arbeit pfeifen. Das ist es, was ich mir am meisten wünsche. Heute abend ist mir das irgendwie klargeworden. Der Weg dahin liegt für mich noch im Dunkeln, aber eigentlich ist das egal.
    Und als wir nach Hause kommen, da kann ich es kaum erwarten, mich an das Klavier zu setzen. In den letzten Monaten habe ich in Barendorf jede Minute, die ich allein im Haus war und in der niemand mich hören konnte, am Klavier gesessen. Es

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