Der Mann mit dem Fagott
und dieses Gerücht hält sich offenbar hartnäckig.
Ein kleiner, etwas dicklicher Mann in der Ecke sieht oft zu uns her, versucht den Blick meines Vaters einzufangen, wendet sich wieder ab, sieht wieder her, dann entschließt er sich, kommt direkt auf uns zu, schüttelt meinem Vater die Hand. »Herr Bockelmann! Vielen Dank, daß Sie mich nicht verraten haben. Ich war nie wirklich auf deren Seite. Aber was hätte man denn machen sollen? Man konnte sich den Befehlen schließlich nicht widersetzen.«
Die Stimme ist ungewöhnlich hoch, ein bißchen weichlich. Mein Vater sieht ihn lange direkt an, und der Mann senkt ständig seinen Blick, was ich sehr merkwürdig finde.
Als mein Vater immer noch nichts sagt, druckst der Mann ein bißchen herum und will sich dann offenbar wieder abwenden. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!«
Wieder diese hohe Stimme.
Da findet mein Vater endlich seine Sprache wieder: »Sie waren der Wärter, der mich in meine Zelle gebracht hat.«
Er wird für einen Moment ganz ernst. Der Mann nickt ein wenig verschämt und verkrampft seine Hände ineinander.
»Ich wollte Ihnen nicht … Ich habe nur Befehle ausgeführt …«, stottert er und verbeugt sich.
»Ja, ja, das haben wir schließlich alle«, sagt mein Vater ruhig.
»Also noch einen schönen Abend«, stammelt der Mann und wendet sich unsicher ab.
Mein Vater schaut ihm gedankenverloren nach. »Auch so ein armes Schwein.«
»Das Land des Lächelns«
Im Saal ein großer, edler, roter Samtvorhang, acht Lüster mit vielen, vielen Lichtern, verzierte Wände, ein wunderschönes altes Ornament an der Decke … ich recke und strecke mich nach allen Seiten, damit mir auch ja nichts entgeht, was mir wieder einen Knuff von Joe einbringt.
»Jetzt glotz doch nicht so auffällig rum!« zieht er mich auf.
Ich werfe ihm einen giftigen Blick zu.
»Wann geht’s denn endlich los?« frage ich nervös und rutsche auf meinem Stuhl herum. Und während mein Vater auf die Uhr schaut und mir zu verstehen gibt, daß es nicht mehr lange dauern kann, ertönt der Gong mit seinem tiefen, vollen Klang, und nicht nur die letzten Besucher zwängen sich endlich auf ihre Plätze, sondern auch die vielen, vielen Musiker betreten den Orchestergraben vor der Bühne. Es sind fast nur ältere Männer, dazwischen auch einige Frauen, und da sitzt wirklich auch ein Mann mit einem Fagott. Er sieht natürlich ganz anders aus als unser Mann mit dem Fagott, und er hat auch keinen Gehrock, kein Kostüm an oder so was, aber trotzdem bin ich begeistert, als ich ihn sehe. Als wäre ein Mann mit einem Fagott so etwas wie ein Glücksbringer oder vielleicht sogar so etwas wie Apollo es für meinen Vater war, und schon der seltsame, irgendwie geheimnisvolle Ton beim Stimmen der Instrumente steigert meine Anspannung bis ins beinahe Unerträgliche.
Der Dirigent betritt sein Pult. Applaus ertönt. Ich bin viel zu aufgeregt, um zu klatschen.
Dann gibt er den Einsatz, und all die vielen Musiker, all die Geigen und Flöten und auch das Fagott beginnen zu spielen, und das ist für mich in diesem Augenblick das Schönste, was ich überhaupt jemals in meinem Leben gehört habe. Es ist Musik, die nicht aus dem Radio oder von einer Militärkapelle kommt. Es ist ein richtiges, großes Orchester, das so voll und klar und satt und berauschend klingt, wie ich mir das nicht einmal in meinen schönsten Träumen habe vorstellen können. Es ist irgendwie das, was in mir schon immer angeklungen ist und das jetzt, in diesem Moment,
eine Bedeutung bekommt. Ich fühle Gänsehaut am ganzen Körper, halte den Atem an, als könne ich sonst nicht jede winzige Nuance richtig hören. Ich möchte, daß dieses Gefühl nie mehr in meinem Leben aufhört.
Und dann hebt sich auch noch der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Bühne mit wunderschönen Kulissen, Menschen in herrlichen Kostümen, die das Thema der Ouvertüre aufgreifen und zu singen beginnen. Magisches Licht auf einer bunten Bühne - und die Darsteller leben dort. Sie leben nicht in dieser grauen, anstrengenden, gefährlichen Welt mit all den Ruinen und den Menschen, die andere foltern und wo es soviel Schwieriges und Düsteres und Böses gibt. Sie leben in Licht und Musik, in der Vollkommenheit, die ich immer für unerreichbar gehalten habe.
Und in diesem Augenblick habe ich alles andere um mich herum restlos vergessen, und ich gebe meiner unbändigen Faszination in einem lauten »Ahhhhh« Ausdruck, was natürlich alle, die um uns herum
Weitere Kostenlose Bücher