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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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dreht sie es mit einer entschlossenen Geste ab.

    »Die Urteilsverkündung wird sich noch bis morgen hinziehen, aber es sieht nach vielen Todesurteilen aus«, sagt sie leise zu meinem Vater, der ein ganz nachdenkliches Gesicht bekommt.
    »Ob das die Antwort ist? Ich meine: Verdient haben die Herrschaften das sicher, aber ob so eine Rachejustiz wirklich die richtige Botschaft bringt? Man fühlt sich irgendwie nicht wohl dabei, oder? Als ob man mit Hinrichtungen irgendetwas sühnen oder einen besseren Geist in die Welt bringen könnte. Ich weiß nicht … Aber ich bin froh, daß ich diese Dinge nicht entscheiden muß und daß wir uns heute einen schönen Abend machen können. Meine Damen und Herren - darf ich bitten.« Und er läßt uns den Vortritt und geleitet meine Mutter am Arm zum Wagen.

»Tommyschweine«
    Je näher wir der Stadt kommen, desto stärker werden die Spuren des überstandenen Krieges, die natürlich noch immer gegenwärtig sind. Immer noch sieht man überall Ruinen, Trümmer. Da und dort wird gebaut. In den Straßen viele britische Soldaten. Sie sind beinahe die einzigen jungen Männer, die man sieht. Viele der österreichischen Männer sind immer noch nicht aus dem Krieg, aus der Gefangenschaft zurück, und etliche von denen, die hier sind, sind verstümmelt.
    An einer Ampel klopft eine junge Frau mit ganz alten Augen an unseren Wagen.
    »Bitte, haben Sie irgendwas für mich? Ich hab alles verloren!«
    Meine Mutter reicht ihr ohne nachzudenken eine halbvolle Schachtel mit Zigaretten durch das Fenster. »Damit kann sie sich einen Laib Brot kaufen oder ein paar Gramm Butter«, erklärt sie uns, während mein Vater weiterfährt durch unsere Gau-Hauptstadt, die jetzt natürlich nicht mehr so genannt wird, woran ich mich erst gewöhnen muß. Zigaretten scheinen inzwischen eine bessere Währung zu sein als Geld, von dem man immer weniger kaufen kann. Am Schwarzmarkt und auch in vielen normalen Geschäften
wird Geld fast gar nicht angenommen, sondern man tauscht gegen Zigaretten.
    Aber wenigstens gibt es jetzt keine Fliegeralarme mehr. Trotzdem schrecke ich immer noch jede Nacht aus meinen Alpträumen hoch, und noch immer werde ich dafür verspottet, daß ich so dünn und schwach bin und solche extrem abstehenden Segelohren habe, und die Welt ist immer noch kein Ort für Jungen, die nicht sportlich und kräftig und tapfer sind wie mein Bruder Joe. Das hatte ich mir immer irgendwie anders vorgestellt …
    »Da oben hab ich gesessen« sagt mein Vater plötzlich leise, mit fast erstickter Stimme, als wir am Gefängnis, das mitten in der Stadt liegt, vorbeikommen. »Da oben, dieses Fenster im obersten Stock …« Wir alle folgen seinem Blick, und meine Mutter greift schnell nach seiner Hand, aber schon ist der Augenblick vorbei.
    Schon sieht man die Lichter des Stadttheaters, das geheimnisvoll angestrahlt wird und in der Dämmerung herrlich leuchtet. Wie durch ein Wunder ist es nicht zerstört, und es hat angeblich auch im Krieg gespielt, und mein Vater hat gesagt, daß das vielleicht das wichtigste ist. Egal, was man gerade für eine schreckliche Zeit durchmachen mag, es muß die Möglichkeit geben, für ein paar Stunden die Wirklichkeit hinter sich zu lassen, ein Theaterstück zu sehen, einen Kinofilm, eine Oper, ein Konzert zu hören, das gibt den Menschen wieder Kraft und Hoffnung, und wenn man ihnen das nimmt, dann demoralisiert man sie.
    Vor dem Theater stehen ein paar britische Soldaten und passen auf, daß alles geordnet vor sich geht.
    »Tommyschweine«, hören wir eine Frau fluchen, als wir gerade aus dem Auto steigen. Und als ich sie entgeistert anschaue sagt sie nur: »Was schaust denn so bleed, Bua! Die hobn mein Månn und mein Buabn umgebrocht, soll i denen vielleicht dånkboar sein?« Doch mein Vater zieht mich einfach weiter, und ehe ich mich’s versehe bin ich in einer völlig anderen Welt.
    Schon das Foyer mit den verzierten Wänden und der Stuckdecke, die Treppen mit den Teppichen zieht mich völlig in seinen Bann. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll in diesen festlichen Räumen, bei all den eleganten Menschen und den vielen schönen Bildern an den Wänden. Und den Photos von Schauspielern und Aufführungen … Ich kann mich gar nicht satt sehen …

    Mein Vater trifft viele Leute, die er von früher kennt, und viele verhalten sich ein wenig seltsam ihm gegenüber. Manche scheinen richtig überrascht zu sein, ihn zu sehen. Es gab ein Gerücht, daß er hingerichtet worden sei,

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