Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
Kleidung, einfach überallhin geschleudert. Mindestens zehn Tage würden wir so unterwegs sein, hieß es. Schon nach zehn Minuten der Fahrt waren wir durchnäßt und halb erfroren, obwohl wir beinahe all unsere Kleider übereinandertragen. Wir alle können uns nicht vorstellen, wie man das durchhalten soll, wenn es noch Tage so weitergeht. Wir sind von einer dicken, schmierigen Schmutzschicht bedeckt, und Platz haben wir auch fast keinen. Irgendwie drängen wir uns zwischen Möbeln und allerlei Gerümpel, das der Fahrer für irgend jemanden transportiert. Mein Vater hat ihn irgendwo aufgetrieben und ihm Geld dafür gegeben, daß er uns als zusätzliche »Ladung« auf seinem Laster mitnimmt. Manfred mit seinen drei Jahren haben wir in ein altes, schmutziges, oben offenes Ölfaß gestellt, das ihm bis zur Nasenspitze reicht, damit er nicht unterwegs vom Lastwagen fällt.
    Joe und ich wechseln uns mit einem Autoreifen ab, in dem man beinahe bequem liegen kann, wenn man sich klein macht. Meine Eltern sitzen auf irgendwelchen Kisten. Mein Vater schiebt alle paar Kilometer eine riesige Standuhr, die schlecht befestigt ist und während der Fahrt immer ein Stück in unsere Richtung rutscht, wieder an ihren Platz. Manchmal übernehmen das auch Joe und ich, wenn unser Vater mal eingenickt ist, aber meistens bleibt Papi sowieso lieber wach, weil er ja auf uns aufpassen muß.
    Und dann gibt es ja auch noch Wegelagerer: Kleine Banden, die sich an Steigungen, an denen man langsam fahren muß, hinter Büschen verstecken. Wenn ein geeignetes Opfer kommt, bei dem sich der Überfall zu lohnen scheint, springt einer auf und beginnt, Ladung von den LKWs zu werfen, die seine Komplizen einsammeln und irgendwie wegtransportieren. Und es ist nicht einmal ein besonders großes Risiko. Der Fahrer merkt das meistens erst viel, viel später, und selbst wenn er es merkt: Die Leute, die die Nebenstraßen benutzen und keine richtigen Papiere haben, haben - wie wir auch - wenig Interesse daran, zur Polizei zu gehen. Und die ist sowieso überfordert.
    Reisen über Zonengrenzen sind eigentlich immer noch völlig unmöglich, auch wenn man gültige Papiere hat, und die bekommt man sowieso nirgends. Deshalb hat mein Vater uns irgendwelche
Ausweise besorgt und hofft, daß wir sie nie zeigen müssen. Um möglichst sicherzugehen, fahren wir fast immer nur über Nebenstraßen, die manchmal nicht einmal asphaltiert sind.
    Vor ein paar Tagen ist es dann passiert. Als wir alle gerade ein wenig unaufmerksam vor uns hin gedöst haben, ist in dunkler Nacht in einem steilen Waldstück plötzlich ein Mann auf unsere Anhängergabel gesprungen und hat versucht, auf unsere Ladefläche zu klettern. Ich hab seine vor Schreck weitaufgerissenen Augen noch gut in Erinnerung, als er uns auf einmal da sitzen sah. Menschen auf der Ladefläche hat er natürlich überhaupt nicht erwartet. Er hat in seiner Angst ganz vergessen, sich festzuhalten, mein Vater wollte ihn noch in den Wagen ziehen, damit er nicht unter den Anhänger stürzt, aber der Mann hat sich in irgendeinem Fluchtinstinkt nur losgerissen und ist genau unter die Räder vom Anhänger gefallen. Er hat nicht einmal geschrien. Der schwere Anhänger hat geholpert, und es hat ein dumpfes Geräusch gemacht, dann war es vorbei. Wir haben alle lange nichts gesagt, denn es war ja klar, daß der Mann jetzt tot war. Wir hätten auch überhaupt nichts tun können, weil wir ja keinerlei Verbindung zu unserem Fahrer haben und ihn nicht bitten konnten anzuhalten, um nachzusehen. Zwischen uns und dem Führerhäuschen stehen ja all diese Möbel.
    Manchmal fahren wir viele Stunden ohne Pause, wenn einer von uns zur Toilette muß, dann hält mein Vater uns fest, und wir hängen uns über den Rand des Lastwagens, anders geht es nicht. Dann aber stehen wir wieder einen Tag, weil unser Fahrer wartet, bis an irgendeiner Straßenkontrolle der »richtige« Beamte, den er kennt und der gegen eine kleine Spende nicht so genau auf die Papiere schaut, Dienst hat.
    Aber jetzt winken erst einmal die Bratkartoffeln. Das Leben kann doch schön sein. Unser Proviant ist nämlich längst aufgebraucht, und die herrlichen Kartoffeln, die eine mitleidige Bäuerin irgendwo bei Linz für uns brät, werden die erste warme Mahlzeit sein, seit wir vor über einer Woche in Barendorf losgefahren sind.
    Die Bäuerin fragt meine Mutter, ob wir aus Deutschland kommen, wahrscheinlich weil meine Mutter so spricht, wie man das in Schleswig-Holstein, wo sie

Weitere Kostenlose Bücher