Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
war schrecklich verstimmt, und die Tasten waren ausgeleiert, aber ich hatte ja kein Akkordeon, und ganz ohne Musik zu leben, das ging für mich einfach nicht. Wenn man etwas in Töne verwandelt, dann kann man viel besser mit seiner Angst und seinen Gefühlen zurechtkommen, das hab ich schon gespürt, als ich als kleines Kind zum allerersten Mal eine Mundharmonika in der Hand hatte.
    Ich wußte ja schon ein bißchen, was Akkorde und Tonarten sind und wie man eine Melodie gestaltet, und so hab ich so lang herumprobiert, bis es mir gelungen ist, meine rechte »Akkordeonhand« irgendwie auch auf meine linke Hand zu übertragen. Ich hab schnell gemerkt, wie man die Baßtöne spielen muß, daß man am besten weite Lagen verwendet, weil die tiefen Töne sonst zu sehr verwischen und hab das alles für mich erforscht und erkundet und mir dabei eine ganz eigene, irgendwie »wilde« Technik angeeignet, bei der ich die gesamte Breite der Klaviatur ausnutze. Mit dieser Technik kann ich schon nach kurzer Zeit alles, was ich gehört habe, so nachspielen, quer durch alle Tonarten, daß es klingt, als wäre es so geschrieben worden. Ich spiele sicher nicht so, wie »richtige« Pianisten spielen, und von »Fingersätzen« und so was hab ich auch keine Ahnung, aber das brauche ich, wie ich gemerkt habe, jetzt noch gar nicht, für mich reicht es im Augenblick, und es macht mir unglaubliche Freude. Es sind die einzigen Momente, in denen ich alles um mich herum vergessen kann und die Welt als einen schönen, aufregenden, spannenden Ort empfinde.

    Erzählt hab ich von meinen vielen Stunden allein am Klavier niemandem. Ich hatte ja auch gar keine Ahnung, wohin mich das alles führen sollte. Es war mein kleines Geheimnis, eine Welt, die ich nur für mich hatte und die sich heute abend für mich geöffnet und begonnen hat, einen größeren Sinn zu ergeben.
    Ich fühle mich sicher wie nie, vertraut wie nie, drücke ein paar Tasten, muß irgendwie diesen Abend verlängern und wiederaufleben lassen und verstehen und beginne, einen Querschnitt der Melodien und Harmoniefolgen, die ich gerade gehört habe, zu spielen. Ohne Noten natürlich. Ich spiele einfach nur für mich selbst, auch wenn die Anwesenheit meiner Eltern und meines Bruders mich inspirieren. Ich habe bisher ja immer nur ganz allein gespielt, und niemand hat mir bisher jemals zugehört, und ich staune über das gebannte Gesicht meiner Eltern, als ich den letzten Ton mit dem gedrückten rechten Pedal langsam verklingen lasse. So nachdenklich und berührt und stolz hat mein Vater mich, glaube ich, noch nie angesehen.
    »Junge, du spielst ja Klavier! Und wir wissen das gar nicht! Das ist ja unglaublich.« Er sucht offenbar irgendwie nach Worten, was ich von ihm gar nicht kenne.
    »Das ist eigentlich gar nicht schwer«, erkläre ich, was für mich selbstverständlich ist. Ich weiß natürlich inzwischen, daß anderen Menschen das alles überhaupt nicht leichtfällt und daß sie auch nicht so dringend Musik in ihrem Leben brauchen, wie ich das tue, aber andere Menschen sind ja auch stark und haben nicht so große Angst und kommen mit dem Leben gut zurecht. Wahrscheinlich braucht man das dann nicht. Bei mir ist das alles anders.
    Mein Vater sieht mich nachdenklich an. »So was gibt es doch eigentlich gar nicht. Du mußt unbedingt Unterricht bekommen. Wir sprechen morgen darüber. Du mußt uns ganz in Ruhe erklären, wie du das gemacht hast.«
    Auch Joe scheint mich zum ersten Mal in meinem Leben fast ein bißchen zu bewundern, und ich genieße das Gefühl. Und zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich für Augenblicke stark und unbesiegbar, nicht mehr wie »Jürgilein« mit all seinen Problemen. Ein bißchen bin ich diesem Namen und seiner Schwäche entwachsen, das spüre ich.
    Nachts, als alle schlafen, schleiche ich mich noch mal ins Damenzimmer
im anderen Trakt des Schlosses, wo man mich von den Schlafzimmern aus nicht hören und ich niemanden stören kann, setze mich ans Klavier und spiele, was schon lange als Idee in meinem Kopf war: einen kleinen Walzer aus meinen eigenen Tönen. Komponieren ist eigentlich ganz einfach, denke ich und freue mich an den perlenden Klängen, die aus meiner Seele entstehen. Ich spiele und spiele und vergesse Raum und Zeit um mich, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter fühle.
    Ich weiß nicht, wie lange mein Vater mir schon zugehört hat. »Junge, das ist ja wunderschön, das Stück kenne ich ja gar nicht.«
    Ich lächle, erkläre: »Das

Weitere Kostenlose Bücher