Der Mann mit dem Fagott
aus. Johann Bockelmann
nickt. Er drückt ihm die Augenlider zu. »Sollen wir es melden?«
Herbert Dregger schüttelt stumm den Kopf. »Noch nicht. Es ist Winter, da können wir es vielleicht bis morgen verbergen. Und wir können Thiedegans einen besonders großen Bissen von der Extraration geben. Ich glaube, der braucht es am dringendsten.«
»Und zieht ihm gleich die Schuhe aus, bevor die Russen sie ihm klauen«, fährt er fort. »Klausen, du hast nur Fußlappen. Dir müßten die eigentlich passen. Zieh sie gleich an!«
Klausen zögert keinen Moment.
Sie halten einen Augenblick inne, nehmen ihre Mützen ab, dann gehen sie wieder an den Tisch.
»Was sollte das heißen? Das mit dem Schießen?« fragt Jens Klausen nach einer Weile der beklemmenden Stille.
»Ich glaube, der war in der SS. Vielleicht bei einem Erschießungskommando oder so was …«
»Der war doch fast noch ein Kind, verflucht noch mal!« Herbert Dregger schüttelt wütend und fassungslos den Kopf.
»SS oder nicht, auf jeden Fall ist er ein armes Schwein.« Johann Bockelmann spricht offen aus, was alle denken. Die anderen nicken. Lars Baumann ist kreidebleich geworden.
Eine Weile ist es totenstill in der Baracke. Bis einer ein einziges Wort ausspricht: »Scheiße!«
»So eine gottverfluchte Scheiße!«
Die Namen der Toten
24. Dezember 1949. Beinahe drei weitere Jahre sind vergangen.
»Vychodi! Sejtscháschtsche!« (»Antreten! Sofort!«) bellt es in die Baracke. Und ein nachgesetztes »Appell!« auf Deutsch, damit auch wirklich jeder Gefangene weiß, was zu tun ist. Johann Bockelmann und seine Mitgefangenen raffen sich mühsam auf. Der sechste Winter, den Johann Bockelmann in russischer Kriegsgefangenschaft verbringt. Abgemagert, krank, hoffnungslos.
Überlebt hat er bisher nur deshalb, weil sein Lager die traurige Statistik der Lager mit den meisten Toten anführte und eine internationale Kommission, die überprüfen sollte, ob die Genfer Konventionen für Kriegsgefangene wenigstens einigermaßen eingehalten werden, sich der Zustände annahm. Als die Ärzte aus Schweden kamen, galt er als sicherer Todeskandidat und rechnete selbst stündlich mit seinem Tod und damit, die Heimat, die Familie nie mehr wiederzusehen, nie mehr zu fühlen, was es bedeutet, frei zu sein.
Plötzlich änderte sich alles. Man gab ihm für ein paar Wochen richtiges Essen, ein richtiges Bett für ihn allein, sogar echten schwarzen Tee, wirksame Medikamente, es war wie ein schöner Traum. Er kam wieder zu Kräften, konnte irgendwann vom Sterbelager aufstehen, aber letztlich hatte er das alles nur den vielen, vielen Toten zu verdanken, die in diesem Lager schon ihr Leben gelassen hatten. Zynismus der Geschichte. Nachdem die Kommission weg war, war alles natürlich schnell wieder in den gewohnten menschenverachtenden Trott verfallen, aber wenigstens hatte er sein Sterben noch einmal hinausgeschoben und neue Kräfte getankt.
Manchmal hatte er sich seither gefragt, ob sein Überleben wirklich gut für ihn gewesen war. Hatte es nicht nur sein Leiden verlängert? Hatte es nicht nur den Moment hinausgezögert, an dem die anderen in der Zelle sich sein Essen für einen Tag erobern konnten, an dem sein Körper irgendwo in dieser verdammten russischen Landschaft verscharrt werden würde? Denn daß es so kommen würde, heute, morgen oder in ein paar Monaten, das war ihm inzwischen klar, sosehr er auch immer wieder um seine Hoffnung auf Freiheit kämpfte.
»Antreten! Wird’s bald!« Wieder der gebellte Befehl. Inzwischen braucht er seine Russischkenntnisse nicht mehr zu verbergen; hier im Lager haben auch alle anderen die Sprache ein wenig gelernt, jedenfalls die verstümmelte, armselige, brutale Sprache der Wärter, mit der man hier konfrontiert war. Daß Russisch auch eine wunderbare Sprache sein konnte, in der die Dichter schrieben, die ihm seit seiner Kindheit vertraut waren und ihm reiche Welten voll Schönheit und Glanz offenbart hatten, daran muß er sich manchmal mühsam erinnern. Dann versucht er, im Geiste wenigstens
ein paar Zeilen, den einen oder anderen Vers von Puschkin, Gorkij oder Tolstoj zu memorieren, was ihm zunehmend schwerfällt.
»Was wollen die bloß von uns?« fragt Thiedegans mit gerunzelter Stirn. Ein Appell bedeutete hier nie etwas Gutes.
»Was machen wir denn mit Klausen?« Adolf Sterzig ist besorgt. »Der kann unmöglich aufstehen.« Jens Klausen aus Lübeck liegt seit zehn Tagen mit schwerer Ruhr auf der Pritsche, und jetzt ist auch noch eine
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