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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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nach Luft. Sein Körper bäumt sich auf. Er riecht noch übler als sie alle. Seit Stunden liegt er in seinen eigenen Exkrementen. Die Latrine aufzusuchen, auch nur aufzustehen, ist ein undenkbares Unterfangen. Jeder von ihnen hat das hier im Lager schon erlebt, und die Wachen haben sich immer wieder
darüber lustig gemacht. »Ihr Deutschen, alles Dreckschweine! Ihr scheißen euch in Hose!« war ein Standardkommentar, meistens mit zynischem Lachen untermalt.
    »Wir brauchen einen Arzt«, ruft Herbert Dregger wieder nach draußen.
    »Ruhe«, brüllt es zurück. Sepp Mittergratnegger krümmt sich vor Schmerzen. Reinhold Diehl füllt etwas Schnee in ein Tuch und legt es ihm auf die Stirn.
    »Er schläft«, meint er dann. Eine Weile warten sie ratlos ab, dann gehen sie wieder an ihren Tisch, beugen sich wieder über den Artikel.
    »Was steht denn da?« ruft einer von hinten.
    »Etwas über ›Entnazifizierung‹«, Johann Bockelmann buchstabiert das fremde Wort beinahe.
    »Was ist denn das ?« Jens Klausen beugt sich über ihn. »Tatsächlich, ›Ent-nazi-fi-zierung‹«, bestätigt er. »Hat einer von euch das schon mal gehört, ›Entnazifizierung‹?« Die anderen schütteln die Köpfe.
    »Aber vielleicht steht da ja auch, was das heißt?«
    Johann Bockelmann liest einige Zeilen. »Der Dirigent Wilhelm Furtw…- Das kann ja eigentlich nur Furtwängler sein, oder? - mußte offenbar im Zusammenhang mit seiner ›Entnazifizierung‹ vor einen Ausschuß, ein Gericht oder so was. Dort soll geklärt werden, ob man ihn wirklich ›entnazifizieren‹ kann. Das verstehe ich nicht.« Ratlos blickt Johann Bockelmann zu seinen Mitgefangenen.
    »Vielleicht meinen die ja einen Austritt aus der Nazi-Partei oder so was? Aber die Partei gibt es doch schon lange nicht mehr, oder?«
    »War der überhaupt in der Partei?«
    »Nein, ich glaube nicht, aber er war der Lieblingsdirigent von Hitler - Berliner Philharmoniker, Bayreuth und was weiß ich was noch alles. Er war schon so was wie ein Aushängeschild. Aber Parteimitglied? Und selbst wenn, der ist doch nicht blöd, der muß doch jetzt nicht von einem Gericht gezwungen werden, aus dieser Partei auszutreten, die es ja sowieso nicht mehr gibt, oder glaubt ihr, eine Nazi-Partei hat in Deutschland doch wieder was zu sagen?«
    »Blödsinn! Da fackeln die Siegermächte bestimmt nicht lange.
Wenn einer heute immer noch Nazi ist und als solcher auftritt, dann wird er doch sicher sofort in ein Gefängnis gesteckt. Und so klingt das hier nicht. Es steht hier auch was davon, daß er immer noch ›Leiter der Berliner Philh …‹ ist. Man würde ihn ja wohl kaum im Amt lassen, wenn er Nazi wäre, oder?«
    »Ist denn Berlin jetzt eigentlich westlich oder östlich? Wie haben die das alles wohl geregelt? Vielleicht gehört Berlin ja inzwischen zu den Russen?«
    Ratlosigkeit in den Gesichtern der Häftlinge.
    »Aber ich versteh das immer noch nicht. Entweder man ist Nazi, oder man ist keiner? ›Entnazifizierung‹, so ein saublödes Wort. Das klingt ja wie Entlausung.«
    »Ja, oder wie Teufelsaustreibung.«
    »Vielleicht machen die im Westen ja so was Ähnliches wie unsere ›Freunde‹ hier im Osten: eine Art ›Umerziehung‹? Vielleicht geht’s darum? Vielleicht müssen die Nazis sich umerziehen lassen, und vielleicht muß das auch Furtwängler tun, aber er weigert sich?«
    »Spinnen die eigentlich alle? Was haben denn die im Westen für Sorgen? Wollen Furtwängler entlausen oder einen Exorzismus mit ihm machen oder ihn irgendwie einer Gehirnwäsche unterziehen. So ein Blödsinn! Vielleicht müssen wir am Ende ja auch noch entnazifiziert werden, wenn wir nach Hause kommen?«
    »Ich glaube, unsere Entnazifizierung überläßt man den Russen. Die treiben uns hier die Flausen schon aus«, wirft Thiedegans ironisch aus dem Hintergrund ein.
    »Ich weiß nicht, ich hab ein komisches Gefühl«, meint Jens Klausen dann. »Der Sepp ist schon so lange so still.« Er geht hinüber, fühlt seinen Puls, schüttelt den Kopf. »Sein Herz rast, aber es fühlt sich dabei so kraftlos an.« Johann Bockelmann und die anderen treten hinzu.
    »Nicht - schießen«, preßt Sepp Mittergratnegger im Fieberwahn hervor. »Ich - will - nicht - schießen! - Das - sind - doch - auch - Menschen!« Er keucht, dann verstummt er, die Augen entsetzt geweitet.
    Johann Bockelmann faßt an seinen Hals. Auch dort kein Puls mehr. Er legt ein Ohr an seinen Mund. »Der atmet nicht mehr …«
    »Er ist tot«, Jens Klausen spricht es ruhig

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