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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Jugend, das Berlin seines Vaters.
    »Mensch, Thiedegans, wir sind in Berlin! Hättest du dir das noch mal träumen lassen!«
    Thiedegans schüttelt den Kopf. Sprechen kann er in diesem Augenblick nicht. Der Kampf gegen die Tränen schnürt ihm die
Kehle zu. Johann Bockelmann legt ihm den Arm um die Schulter. »Wir haben’s geschafft! Wir haben’s tatsächlich geschafft!« Thiedegans nickt.
    Irgendwo in der Ferne ein roter Lichtblitz, der in buntem Regen zerfällt, gefolgt von einem blauen Blitz. Thiedegans zuckt zusammen. »Was ist denn das?«
    Sie warten, und tatsächlich, nach ein paar Sekunden wieder ein solcher Blitz, diesmal ein grüner.
    »Mensch, das muß aus dem Westteil der Stadt sein. Die feiern Silvester!« Lars Baumann hat es zögernd gesagt, ungläubig. Daran, daß es Silvester mit Silvesterfeiern und Feuerwerk überhaupt noch gibt, hat keiner von ihnen mehr gedacht.
    Fasziniert betrachten sie das Spiel.
    »Aber es ist doch noch lange nicht Mitternacht.« Adolf Sterzig kann es nicht begreifen.
    »Die fangen halt ein paar Stunden früher an, auf die Pauke zu hauen.«
    »Was für eine Begrüßung …«, meint Thiedegans schwärmerisch.
    »Daß ich das noch mal erleben darf: Silvester, Feuerwerk, Deutschland! Meint ihr, meine Evi holt mich ab?« Lars Baumann ist seit Stunden in einer Stimmung zwischen Angst und Übermut. Er hat erst am Morgen der Abfahrt erfahren, daß auch er freikommen soll. Die Freigelassenen wurden zum Abmarsch aufgerufen, und plötzlich war auch der Name »Baumann, Lars« dabei. Er hatte es erst gar nicht glauben wollen, war einfach fassungs- und bewegungslos sitzen geblieben, bis Johann Bockelmann ihm einen Stoß in die Seite gab und ihm zuraunte: »Stell jetzt bloß keine Fragen, nimm deine Sachen und komm. Das ist deine Chance, und es ist die einzige.«
    Auf dem Weg zur Bahnstation hatte man dann erfahren, daß außer Baumann auch noch andere mit dabei waren, die vor ein paar Tagen, an Weihnachten, als die Freilassungen verkündet worden waren, nicht mit aufgerufen worden waren.
    »Wahrscheinlich hat Deutschland eine bestimmte Anzahl von uns armen Schweinen freigekauft, und die, die zur Freilassung vorgesehen waren aber inzwischen gestorben sind, sind schnell durch andere ersetzt worden, damit die Zahl wieder stimmt«, hatte einer
vermutet, und es erscheint ihnen plausibel. Als man sie damals ins Lager abtransportiert hatte, war es ja schließlich auch darauf angekommen, daß die Zahl stimmte, und die Toten waren durch Lebende ersetzt worden. Die Bürokratie mußte auch in Zeiten wie diesen funktionieren. Kalter Zynismus der modernen Zeit.
    Daß der Tod von Jens Klausen somit vielleicht indirekt Lars Baumann die Freiheit geschenkt hatte, scheint eine der unbegreiflichen Verstrickungen des Schicksals zu sein, dem sie alle seit ihrer Gefangennahme ausgeliefert waren. Unberechenbar und unmenschlich.
    »Aber daß die mich wirklich freigelassen haben«, murmelt Baumann seit Tagen immer wieder vor sich hin. »Ich hätte doch nie mehr freikommen dürfen.«
    Thiedegans, Sterzig und Johann Bockelmann sehen sich ratlos an, dann ergreift Johann Bockelmann das Wort: »Lars, hör bitte auf zu spinnen! Warum erzählst du eigentlich immer diesen Unsinn, daß du nicht hättest freikommen dürfen? Hör bitte mit diesem Quatsch auf!«
    Lars Baumann zögert einen Augenblick, dann meint er tonlos: »Ich hab die Tätowierung unter meinem Arm. Ihr wißt schon … Meine Blutgruppe.« Und nach einer weiteren Pause, leise, mit gesenktem Kopf: »Ich war in der SS.«
    Langes, betretenes Schweigen. Das Feuerwerk, der erste Vorbote des neuen Jahres, des neuen Lebens, verklingt, und erst nach quälenden Minuten der Stille spricht er weiter.
    »Ich war halt ganz jung, aber das ist natürlich keine Entschuldigung«, versucht Lars Baumann zu erklären, was er selbst nicht mehr versteht. »Ich war als Junge begeistert von Hitler. Ich war stolz, Deutscher zu sein, nachdem das Land so auf dem Boden lag und durch ihn dabei war, wieder aufzuerstehen. Ich war überzeugt davon, das Richtige zu tun, an etwas Großem und Wichtigem teilzuhaben, und ich hab mit meinen siebzehn Jahren damals wirklich geglaubt, daß die germanischen Menschen die Welt beherrschen müssen, damit es eine gute Welt ist und diesen ganzen Unsinn. Könnt ihr euch das vorstellen?« Er sieht die anderen verzweifelt an.
    Thiedegans und Johann Bockelmann nicken zögernd.
    »Dazu kam dann noch, daß ich äußerlich der richtige Kandidat
für die SS war.

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