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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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kann man solche Grenzerfahrungen der Unmenschlichkeit vermitteln? Johann
Bockelmann hat keine Antwort darauf. Mit seinem Vater hätte er vielleicht darüber sprechen können. Doch damals, als Heinrich in der Verbannung war, hatte man ihn zwar seiner Freiheit, nicht aber seiner Würde beraubt. Es war schlimm gewesen, das stand außer Frage, aber damals war man Gefangenen noch mit einem Rest an menschlichem Respekt begegnet.
    Das Fortschreiten des Jahrhunderts hatte ein unendliches Fortschreiten von Haß und Barbarei mit sich gebracht, das war Johann Bockelmann in dieser Zeit bewußt geworden. Haß und Barbarei auf beiden Seiten. Sieger oder Verlierer - beide Seiten waren gezeichnet von diesem Krieg, dieser Verwüstung, der Unmenschlichkeit, die alle Grenzen gesprengt hatte. Krieg war etwas geworden, das mit Ehre, Würde, Menschenrechten, Werten nicht mehr das geringste zu tun hatte.
    Er selbst hatte - anders, als es in den Jahren, in denen er jung war, üblich war - Krieg noch nie in seinem Leben romantisiert, aber was er erlebt hatte, hatte seine Vorstellungskraft bei weitem übertroffen. Man hatte in diesem Krieg der Brutalität keinerlei Grenzen mehr gesetzt und jede Menschlichkeit brutal niedergewalzt. Johann Bockelmann hatte am eigenen Leib erfahren, wie seine Landsleute im Osten gewütet haben mußten, um dieses Maß an Unbarmherzigkeit heraufzubeschwören. Sollte er davon erzählen, wenn er nach Hause kam? Sollte er alles, was er erlebt hatte, im Erzählen wieder und wieder erfahren? Er weiß keine Antwort darauf.
    Wahrscheinlich würde Humor auch in dieser Frage das einzige Mittel sein, um eine Sprache zu finden - und um weiterzuleben. Nur ob er die Kraft dafür haben wird, das weiß Johann Bockelmann nicht.

Friedland
    »Mensch, Johnny, wie konntest du uns nur so lange warten lassen!« Werner Bockelmann schließt seinen kleinen Bruder sachte in die Arme. Er würde ihn gern an sich drücken, aber er hat Angst, ihn zu verletzen, so abgemagert und schwach, wie er geworden ist.
    »Werner, warum weinst du? Meine Ferien haben eben etwas länger gedauert!« Johnnys kaum hörbare Antwort zwischen Lachen und Weinen.
    Lange stehen sie so da, Johann Bockelmann lehnt sich an seinen Bruder, spürt dessen starken, kräftigen Körper und spürt, wie seine eigenen Kräfte schwinden, jetzt, da er am Ziel ist und gehalten wird von jemandem, auf den er sich stützen kann.
    Werner Bockelmann spürt den Körper seines Bruders, der höchstens noch dreißig Kilo wiegen mag, spürt jede Rippe, die knochigen Schultern, und all die Angst, die sie um ihn hatten, alles Entsetzen über das, was er durchgemacht haben muß, die ganze eigene Hilflosigkeit kehrt in diesem Moment zurück und ergreift Besitz von ihm.
    Es ist spät am Abend. Silvester. Sie stehen am Bahnsteig in Friedland, dem Auffanglager für die Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft. Am Morgen erst hatten sie die Nachricht erhalten, daß Johnny noch am selben Abend hier ankommen sollte. Nur ein Telegramm, eine kurze Notiz: »Dr. Johann Bockelmann Ankunft Friedland, 31.12.1949, ab 20 Uhr.« Sie hatten es kaum glauben können.
    Erst hatten sie alle gemeinsam hinfahren wollen, Gert und seine zukünftige neue Frau Elke, Erwin und Lilo aus Hamburg, seine Mutter Anna und Pascha, Werner und Rita und die Kinder, aber dann hatte man befürchtet, Johnny mit so einem großen »Empfangskomitee« zu überfordern, und Werner hatte Angst, daß seine Mutter beim Anblick ihres Jüngsten - vielleicht todkrank oder verwundet - zusammenbrechen könnte. Oder was, wenn Johnny doch nicht dabei wäre? Es wäre eine zu große Belastung für sie gewesen. So hat Werner die anderen überredet, ihn allein nach Friedland fahren zu lassen.

    Er hatte Angst gehabt. Angst, die er nicht gezeigt hat. Angst, er würde ihn nicht mehr erkennen, Angst, ihn in einem hoffnungslosen Zustand oder gar nicht zu finden. Stunden hatte er auf den Zug gewartet. Dann war er endlich pfeifend und fauchend eingefahren. Die ersten Türen hatten sich geöffnet, die ersten Heimkehrer waren ausgestiegen. Suche nach irgendetwas Vertrautem, irgendeiner Ähnlichkeit mit dem Gesicht, den Augen desjenigen, den er suchte. Und plötzlich stand er vor ihm: unrasiert, bleiche Haut, eingefallene Wangen, um Jahrzehnte gealtert, orientierungslos, fast schüchtern. Man erkannte sich sofort.
    Da stehen sie nun inmitten von Herumirrenden, Suchenden. Frauen, die jedem, dem sie begegnen, Photos ihrer Männer zeigen, bei jedem

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