Der Mann mit dem Fagott
Jedenfalls haben mir das schon in der Schule immer alle gesagt: blond, groß, sportlich. Es war am Anfang wie ein Spiel. Ich hab sie alle in die Tasche gesteckt, die anderen Jungs meine ich. Ich war ihnen einfach überlegen - körperlich bei diesen Wehrsportspielen und all dem, und auch in Rassekunde. Ich hab immer gehört, daß ich in die beste Rassenklasse gehöre, daß ich etwas Besonderes bin, und ich war stolz darauf. Und ich hab gemerkt, daß ich für mich und meine Familie ein besseres Leben hab, wenn ich mich freiwillig zur SS melde. Das war mir wichtig. Wichtiger als vieles andere.« Er hält inne, überlegt lange, wie er weitersprechen soll, dann entscheidet er sich für die schlichte und ausfluchtslose Form. »Als dann der Krieg begann, wurde ich so einem Lager zugeteilt. Ihr wißt schon … So einem Konzentrationslager. Als Aufseher. Ich war doch völlig ahnungslos!«
»Du meinst, so ein Lager wie das, über das uns die Russen in unserem Lager diesen Film gezeigt haben, den wir alle für Propaganda gehalten haben?«
Lars Baumann nickt. »Das war keine Propaganda«, meint er leise und bekräftigend, »das war die Wahrheit.«
Betretenes Schweigen.
»Ich hab selbst nichts Besonderes getan, ich hab nur auf einem Wachtturm gesessen und Wache geschoben. Zum Glück hat keiner während meiner Schicht versucht zu fliehen. Ich hab keinen erschossen oder vergast oder so was, aber ich hab vieles gesehen, und ich konnte bald nicht mehr und hab begriffen, daß ich das nicht aushalte, daß das alles ein unendlich großes Verbrechen ist und daß ich da raus muß. Ich hab auf krank simuliert und alle Tricks versucht. Schließlich hat man mich irgendwann gehen lassen. Ich hab die SS verlassen und bin dafür an die Ostfront gekommen. Dann hat mir meine Evi im ersten Brief, der zu mir durchkam, geschrieben, daß wir ein Kind bekommen haben, den kleinen Fritz. Da wollte ich nur noch überleben und wieder nach Hause. Aber was soll ich ihm bloß erzählen, wenn er mich später mal nach dieser Zeit in meinem Leben fragt?«
»Die Wahrheit natürlich«, meint Adolf Sterzig schließlich, und nach einer langen Pause: »Du mußt jetzt nach vorn schauen und ein neues Leben anfangen, das ist der einzig mögliche Weg.«
»Es ist der einzig mögliche Weg für jeden von uns, wenn wir
aus unserer Freiheit etwas machen wollen«, meint Thiedegans ruhig.
»Vielleicht werden mich ja jetzt bei der Rückkehr die Deutschen verhaften, weil ich bei der SS war. Möglich wär’s.« Keiner widerspricht ihm. »Und wenn meine Evi nicht kommt, dann ist mir das auch egal, dann hat sowieso alles keinen Sinn mehr.«
»Meint ihr, sie wird da sein?« Die wiederholte Frage, während der Pfiff der Bahnhofswärterin ertönt und das Signal zur Weiterfahrt gibt.
»Keiner von uns weiß, ob jemand für uns da sein wird. Wir sind der Hölle entronnen, das sollte das einzige sein, was uns jetzt interessiert.« Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, und die Angst fährt mit - bei jedem einzelnen von ihnen.
Sie lassen Berlin hinter sich. Johann Bockelmann spürt eine seltsame Mischung aus Erschöpfung und Erregung. Er wird in wenigen Stunden frei sein, nach beinahe sechs Jahren des unbegreiflichen Elends, der permanenten Todesnähe und einer von Menschen gemachten Grausamkeit, die jedes Vorstellungsvermögen übertraf.
Das Gespräch mit seinem Vater Heinrich, nach dem er sich in den Jahren im Lager immer wieder gesehnt hat, wird es nicht geben. Vor ein paar Tagen erst hat er erfahren, daß Heinrich noch vor dem Ende des Krieges in Meran gestorben ist. Er wird das, was er in den letzten sechs Jahren durchgemacht hat, also nicht mit ihm teilen können. Was wird die Zukunft für ihn bringen? Nun ist er beinahe 38 und hat keine Ahnung vom Leben. In manchen Augenblicken macht es ihm angst.
Die Krankheit, die Kälte, der Hunger haben sich tief in seinen Körper gefressen. Johann Bockelmann fühlt sich unendlich geschwächt, hat kaum die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um im Zug den Waschraum aufzusuchen. Was für ein unbegreifliches Gefühl: ein »echter« Waschraum mit einer »echten« Toilettenschüssel, Spülung, einem Wasserhahn, aus dem Wasser läuft, wenn man ihn aufdreht. Beim ersten Besuch in jenem Raum hatte er sich kaum daran satt sehen können, hatte das Wasser immer und immer wieder aufgedreht, sich gefreut wie ein Kind.
Er fürchtet auch die vielen Fragen. Wie soll er den Menschen zu Hause von den letzten sechs Jahren erzählen? Wie
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