Der Mann mit dem Fagott
wieder auf. Wohin es mich im Strom der Zeit und des Lebens wohl verschlagen wird? Wohin unsere Zeit gehen wird? Strudel, Wirbel, Irrungen gehören sicher dazu. Auch für mich. Aus ihnen hervorzugehen, macht stark und inspiriert. Möchte nicht
treiben in der Brandung der Zeit, sondern steuern, wie als Kind das Schiff meiner Phantasie, nicht umhergeworfen werden, sondern geschickt die Klippen umschiffen. Auch mal gegen den Strom. Nicht Fähnlein im Wind sein, sondern selbst Sturm entfachen, der andere mit sich zieht. Jugendliche Allmachtsphantasie, eingesetzt für das, wofür ich stehe. Manchmal ahne ich, daß sie sich erfüllen kann. Irgendwie. Irgendwann.
Zurück im Café. Meine Mutter immer noch in ihre Zeitungen vertieft, aufbegehrend gegen alle Ungerechtigkeit der Zeit. Und gegen Frauenmagazine, die in ihren Augen ein dümmliches, oberflächliches Frauenbild zeichnen. »Rudjascha, Udo, das müßt ihr euch anschauen - oder vielleicht auch besser nicht! Das ist doch wirklich das Letzte! Wo gibt’s denn so was? Sind wir Frauen wirklich so blöd!? Das kann doch wohl alles nicht wahr sein!«
Meine Mutter, wie sie leibt und lebt. »Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über die Zukunft und über die Zeit«, erklärt mein Vater ein wenig geheimnisvoll.
»Und über Haltung, die man bewahren und zeigen sollte«, versuche ich das Gespräch auf den Punkt zu bringen.
»Ah! Das ist gut! Jetzt trinken wir noch einen Kaffee! Der Kuchen hier ist herrlich!«
Die Uhr
Sechs Uhr morgens. Wieder in unserer Gemeinschaftsbude. Meine Eltern sind am Nachmittag zurück nach Kärnten gefahren. Wir haben im »Esplanade« gespielt. Ein ganz normaler Abend. Es war viel los, wie immer am Samstag. Patsy ist nicht gekommen. Leichte Wehmut. Die anderen schlafen schon. Ich streiche mir noch ein Leberwurstbrot. Heimatgefühl.
Gittas Brief auf meinem Bett hebe ich mir für morgen auf. Sehnsucht nach ihren großen, lebendig-melancholischen Augen, der Klarheit ihres Verstandes, ihrem Lachen, ihrer Ernsthaftigkeit.
Aber auch Angst vor den Schuldgefühlen, vor Bindungen, die unfrei machen. Wie haben das meine Eltern nur geschafft?
Behutsam nehme ich das Kästchen mit der Uhr, öffne es wieder, lese im schwachen Licht, das die Tankstelle durch unser Fenster wirft, noch einmal den Brief, wiege das kostbare Geschenk in meiner Hand. Sitze lange so da. Gedanken über die Zukunft und über die Zeit. »Woher ich auch komm, wohin ich auch geh«, singt es in mir. Man müßte ein Lied schreiben, das so heißt. Denke an Patsy und an ihre Sterne. »Reach For The Stars«, auch ein schöner Titel.
Die Uhr liegt schwer in meiner Hand. Unvorstellbar der Weg, den sie genommen hat, um nun hier in Salzburg in meinem kleinen Zimmer an einer Tankstelle zu landen. Es erscheint mir unwirklich, kaum begreifbar. Was für Zeiten, durch die meine Familie seit Anbruch dieses Jahrhunderts gegangen ist: Kriege und Hoffnung, Glanz und Elend, Glück und Verzweiflung. Zum zweiten Mal eine Chance auf Frieden. Das Vermächtnis meines Großvaters Heinrich, die Worte meines Vaters. Wohin auch immer es mich verschlagen, mein Weg mich führen wird: Ja, ich werde an meinem Platz stehen, wie mein Großvater an seinem Platze stand, mein Vater, seine Brüder. Ich werde sie nicht enttäuschen, gelobe ich mir selbst feierlich, voll jugendlichen Ernstes.
Puste dann lächelnd, vertrauend auf meine Zauberkraft. Sie ist mir zugeneigt. Der Deckel öffnet sich. Zum ersten Mal nur für mich. Schlägt und bimmelt und summt.
»Ruhe!« brummt es schwach aus Brunos Bett. »Ich will schlafen!«
2. KAPITEL
Moskau, September 1912
Das neue Automobil
Die ersten Blätter sind gefallen. Im milden, goldenen Licht des Herbstes erstrahlt Moskau in märchenhaftem Glanz. Sonntag, ein sonniger Nachmittag. Familien promenieren auf den Straßen. Kutschen warten vor den herrschaftlichen Häusern, in denen die feine Gesellschaft Moskaus zum Tee geladen ist. Es herrscht reges Leben. Tabuletkrämer mit Bauchläden bieten ihre Waren feil, Zeitungen, Tabakwaren, Früchte, Seife und dergleichen Kostbarkeiten mehr. Droschken suchen sich ihren Weg über die noch immer kaum ausgebauten Straßen mit Holzbelägen, schadhaftem Kopfsteinpflaster oder auch nur Erde. Ein Wasserrohrbruch hat die Lehmstraße an der Kamergerskij Pereulok wieder einmal in einen Schlammweg verwandelt. An solche Beeinträchtigungen ist man in dieser Stadt gewöhnt. Vom Wasser aufgerissenes Kopfstein- oder Holzpflaster ist der Preis, den man für
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