Der Mann mit dem Fagott
Vaters, und ich möchte es, wie er es verfügt hat, anläßlich deiner Volljährigkeit an dich übergeben. Ich glaube, es ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür, und ich bin sicher, du wirst es in Ehren halten.«
Vorsichtig löse ich die Schleife, öffne das Papier und finde ein kleines, schwarzes Kästchen, das ich sehr gut kenne.
»Das ist ja die Uhr!« staune ich, noch ehe ich das Kästchen geöffnet habe. Die goldene Taschenuhr meines Großvaters, die mein Vater immer an besonderen Tagen aus seinem Schrank geholt und getragen hat. Dann durften wir Söhne der Reihe nach auf seinem Schoß sitzen und das Wunderwerk bestaunen. Eingehüllt in seinen Duft nach Kölnisch Wasser, der uns gleich das Gefühl von Besonderem vermittelt hat, hat einer nach dem anderen gebettelt: »Die Uhr! Bitte, zeig mir die Uhr!«
Geheimnisvoll hat er sie an ihrer goldenen Kette aus seiner Tasche geholt. Außen ganz aus Gold, schwer und glänzend. Der oberste Deckel, der den Blick auf das Zifferblatt freigab, ließ sich mit einem geheimen Knopf öffnen, den wir Kinder nicht kannten. Mein Vater hat sachte gepustet, wie von Zauberhand öffnete sich der Deckel, und wir konnten das Zifferblatt sehen. Große, edle, prachtvoll geschwungene schwarze Zahlen und Zeiger auf weißem Hintergrund. Die Uhr machte die Zeit in einem Summen und Klingen hörbar. Immer wieder mußte unser Vater das Spiel wiederholen, die Uhr durch die Magie seines Atems dazu bringen, sich auf unerklärliche Weise zu öffnen. Auch wir selbst durften pusten, und manchmal waren die Zauberkräfte uns zugeneigt und ließen den Deckel aufspringen. Was für ein Erlebnis!
Der Klang der Zeit. Tief und würdig der Stundenschlag, heller, beschwingter das Bimmeln der Viertel- und halben Stunden, und ganz leichtfüßig, fast tickend das schnellere Summen der Minuten. Zeit hatte damals etwas Fröhliches und zugleich Würdiges für mich, etwas wunderbar Geheimnisvolles, nichts Bedrohliches wie später, als die Zeit zu verrinnen und zu fordern begann. Zeit war Musik, war Klang, war das wundersame Zusammenspiel von Zahnrädchen und Hämmerchen, geborgen im Schutz meines Vaters.
Die Uhr, im 19. Jahrhundert kunstvoll gefertigt, war immer eines seiner kostbarsten und liebsten Besitztümer gewesen. Ich wage kaum, das schwarze Kästchen mit dem weichen roten Samtfutter zu öffnen und tue es dann doch, wiege das schwere, goldene Wunderwerk in meiner Hand. Geschlossen. Kann mich nicht lösen von dem Gefühl, daß nur mein Vater es öffnen sollte. Mit seiner Zauberkraft. Irgendwie gehört die Uhr zu ihm, nicht zu mir.
»Dein Großvater hat sie mir als dem Zweitgeborenem vererbt, wahrscheinlich einfach weil ich sie so geliebt habe, noch mehr als mein älterer Bruder Erwin, und weil Heinrich ja selbst der Zweitgeborene war. Auch er hat die Uhr von seinem Vater bekommen, als er mit 21 von Bremen nach Moskau ging, und wie es für ihn typisch war, hat er daraus eine Tradition geschaffen, die ich gern mit dir als meinem Zweitgeborenem fortsetzen möchte.«
Im Deckel des Kästchens ein fast vergilbtes altes Blatt Papier. Das habe ich noch nie zuvor gesehen. Vorsichtig nehme ich es heraus, entfalte es, erkenne gleich die große, ausdrucksstarke Schrift meines Großvaters, die mein Vater uns oft in seinen alten Briefen gezeigt hat. Die altdeutsche Schrift zu entziffern fällt mir schwer. Es ist eine Art Testament, ein Vermächtnis, wie mein Vater richtig gesagt hatte. Langsam setze ich mir die Wörter zusammen:
An meine Nachkommen. - In einer Stunde, in der die mögliche Freiheit mir ebenso nah ist wie das mögliche Ende und ich außer diesen Worten und diesem kostbaren letzten Besitz nichts weiterzugeben habe, schreibe ich diese Zeilen und vermache die goldene Taschenuhr meines Vaters an meinen zweitgeborenen Sohn Rudi. Sie soll ihm am Tag seiner Volljährigkeit zusammen mit diesen Zeilen übergeben werden, und so möge dies von Generation zu Generation weiter geschehen, in der Hoffnung, einen Teil von mir selbst fortleben zu lassen in den Gedanken und Gefühlen meiner Nachkommen. Denn eine Familie ist wie ein Baum, im Erdreich verankert durch ein Geflecht von starken und schwachen Wurzeln, die sich in seinem Stamm vereinen und in den dem Himmel zugewandten, nach oben strebenden Ästen und Zweigen ihr Spiegelbild finden. Jeder ein Teil des Ganzen, aber nur gemeinsam das Wunderwerk, das Wind und Wetter und auch der Zeit trotzt.
Nur wer die Stärken und die Schwächen des Ganzen kennt, wird
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