Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
kraftvoll in seiner Zeit stehen, unantastbar wie die Eiche im Sturm - wie ich selbst es mir für mein Leben oft gewünscht habe aber nicht immer war.
    Dafür möge diese Uhr Symbol und Erinnerung sein und ein Anker im Sturmwind des Lebens.
    Moskau, 31. Mai 1915
    Gewichtige Worte, ganz im konservativen, nachdrücklichen Stil meines Großvaters. Schweigen.
    Behutsam falte ich dann den Brief, lege ihn wieder zurück an seinen Platz auf dem roten Samt des Kästchens. »Komm, laß uns spazierengehen«, fordert mein Vater mich auf, wie meistens, wenn er in Ruhe ein Gespräch mit einem von uns drei Söhnen führen möchte.
    Meine Mutter bleibt lieber im Café, genießt die elegante Atmosphäre, den Blick, die vielen Zeitungen, in die sie sich sogleich vertieft. »Geht ihr nur! Ich informiere mich solange darüber, was los ist in der Welt« und ist schon ganz versunken in einen politischen Artikel des »Spiegel«.
    Unser Weg führt uns am Mozarteum, der berühmten Musikhochschule, entlang. Aus den geöffneten Fenstern ein buntes Gewirr der unterschiedlichsten Klänge: Geigen, eine Sopranstimme, Klaviere, Flöten. Übende Studenten. Ein ganz und gar nicht aufeinander abgestimmtes Orchester hoffnungsvoller und zweifelnder Begabungen. Auch ich verbringe hier so manchen Nachmittag. Wenn ich von den Nächten im »Esplanade« nicht zu müde bin, besuche ich hier die Kurse, die mich interessieren, nicht das volle Programm, dafür fehlt mir neben der Arbeit im »Esplanade« die Zeit und die Kraft.
    In die vielstimmige Klangkulisse mischt sich tief und geheimnisvoll ein Fagott. Mein Vater staunt mit einem seltsam in die Ferne gerichteten Blick, bis er sich löst und wir wie selbstverständlich und ohne uns abgesprochen zu haben, den Weg zur Salzach einschlagen.
    Eine Weile schlendern wir schweigend am Ufer entlang. Strahlend die Blätter des Herbstes im Sonnenlicht. Rascheln unter unseren Füßen.
    Auf der anderen Seite des Flusses der Dom, halb aufgerissen von den Bombeneinschlägen. Die Kuppel gerade wiedererrichtet. Man hat Krieg geführt auch gegen die Kulturdenkmäler der Feinde. Immer schon. Angriff auf die andere kulturelle Identität. Demonstration der Vergänglichkeit an Symbolen der Ewigkeit. Noch nie zuvor hat sie ein solches Ausmaß erreicht. Auch dies gehört im Bombenkrieg dazu. Eine neue, verletzende Erfahrung. Aber auch eine fast tröstende Demonstration der gefürchteten und unbezwingbaren
Macht von Kunst und Kultur. Der Wiederaufbau des Domes erhält höchste Priorität in dieser Stadt, wird zum Symbol des diplomatisch zurückeroberten Rechts auf ein eigenes Gesicht. Suche nach Identität.
    Mein Vater betrachtet kopfschüttelnd die Silhouette mit dem zerstörten Dom, dann meint er gedankenverloren: »Weißt du noch, wie du mit 12 Jahren den ›Valse Musette‹ komponiert hast? - Spätestens da wurde deiner Mutter und mir klar, daß in deiner Musik deine ganz große Kraft liegt und daß wir dir darin nicht im Weg stehen dürfen. Wir haben dich vor vier Jahren ziehen lassen, und wir bereuen diese Freiheit, die wir dir geschenkt haben, nicht. Du hast uns bewiesen, daß es dir ernst ist, daß du mit Disziplin und eisernem Willen deinen Weg gehst, und ich möchte dir sagen, wie stolz ich auf dich bin.«
    Ich schweige, weiß nicht, was ich sagen soll.
    »Die Uhr«, fährt er fort, »soll dich auch immer daran erinnern, wie wichtig die Zeit im Leben ist. Nicht nur die Stunden und Tage, die vergehen und natürlich mit Sinn erfüllt werden wollen, sondern auch die Epoche, in der du stehst. In der Mitte eines neuen Jahrhunderts, in dem der Welt schon gräßliche Wunden zugefügt worden sind und in dem jetzt zum ersten Mal seit langem die Chance auf Frieden besteht. Mit der Uhr, die dein Großvater 1915 aus den Wirren von Umsturz und Weltkrieg aus Rußland gerettet hat und die ihren Weg durch die Katastrophen, Kriege und Umwälzungen dieses Jahrhunderts bis hierher zu dir nach Salzburg gefunden hat, ist auch eine gewisse Verantwortung verbunden, in deiner Zeit auf deinem Platz zu stehen. Für deinen Großvater hat immer gegolten: Es ist nicht wirklich wichtig, was du im Leben an Geld und Gut erreichst. Wichtig ist, daß du deinen eigenen Weg mit Haltung gehst, daß du dir selbst mit reinem Gewissen in die Augen schauen kannst.«
    Schweigend und nachdenklich setzen wir unseren Weg fort. Neben uns die Salzach mit ihren Strudeln und Wirbeln. Ein Stück Holz treibt auf ihr, wird in einen Strudel gerissen, taucht an anderer Stelle

Weitere Kostenlose Bücher