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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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letzten Sommer gebastelt haben, vom Dachboden! Für den großen ist der Wind zu stark.«
    Der zehnjährige Werner nickt und rückt seine Brille zurecht.
    »Der, den wir in Rußland gelassen haben, der wäre jetzt genau richtig. Weißt du noch, den haben wir mit Nastasja steigen lassen. Glaubst du, wir werden sie wiedersehen? Ich hab es ihr nämlich versprochen.« Eindringlich sieht er seinen Vater an.
    Heinrich schluckt schwer. »Das weiß leider niemand, mein Junge, aber wenn du an sie denkst, spürt sie das sicher, und sie weiß, daß du dein Versprechen wahrmachen möchtest.« Seine Stimme klingt heiser.
    »Aber ist das nicht ungerecht, daß wir weggegangen sind und sie zurückgelassen haben?«
    Heinrich sieht ihn überrascht an. »Nastasja hätte mit uns mitkommen können, aber sie wollte es nicht. Es geht ihr sicher gut.«
    Werner nickt nachdenklich. »Ja, und wenn die Roten kommen, wird sowieso alles gerechter.«
    Heinrich ist entgeistert. Woher hat der Junge das nur? Wieso redet er ausgerechnet jetzt, während der Brief, den er selbst in Sachen Lenin soeben diktiert hat, noch in der Schreibmaschine steckt, ausgerechnet davon, daß die Roten in Rußland an die Macht
kommen werden? Er muß sich räuspern. »Darüber reden wir später, mein Sohn. Das ist kein Thema für den Augenblick.«
    Er nimmt, auch um sich selbst abzulenken, seine Uhr aus der Tasche, hält sie Johnny hin. »Puste!« Mit glänzenden Augen pustet der Kleine, so fest er kann.
    »Das war ja noch gar nichts! Fester!« Er zwinkert Rudi dabei zu.
    Johnny pustet mit einer Ernsthaftigkeit, die Heinrich berührt. Die Taschenuhr springt auf und summt und bimmelt und klingt. »Es ist jetzt also halb elf. In fünfzehn Minuten treffen wir uns alle draußen. Pünktlich!«
    Polternd laufen die Kinder nach oben. Energisch schließt Heinrich die Tür. Stille umfängt ihn. Die Schreibmaschine schweigt. Der Sekretär nimmt das letzte Blatt mit dem vertrauten Geräusch schleifender Zahnräder aus der Maschine, legt es ihm vor. Heinrich setzt sich, liest das Geschriebene noch einmal sorgfältig durch, an manchen Stellen nachdenklich innehaltend, an manchen seine beklemmende Verunsicherung bekämpfend, setzt dann mit fester Hand und sich selbst abgerungener Entschlossenheit seine Unterschrift darunter.
    »Das geht heute noch mit einem Boten an Hugo Stinnes in der deutschen Gesandtschaft zur Weiterleitung an den Reichskanzler!«
    »Natürlich.« Der Sekretär versiegelt den Umschlag.
    »Das war dann alles. Sie können gehen.« Der Sekretär verläßt mit einer knappen Verbeugung den Raum. Heinrich hält noch einen Augenblick inne, sieht dem Mann mit dem Fagott in das geheimnisvoll lächelnde Gesicht. Wie es ihm wohl in den letzten Jahren ergangen sein mag? Vielleicht wird es ihm über seine Kontaktpersonen in Rußland möglich sein, ihn zu finden. Heinrich verdankt ihm so viel. Man müßte herausfinden, wie es ihm geht und ihm gegebenenfalls helfen, sich ein lebenswertes Leben zu schaffen. Das wird er tun, sobald die Zeiten es zulassen.
    Kinderstimmen vor dem Fenster. Die Jungs warten draußen, die Wangen schon gerötet. Werner hat den rot-blauen Drachen unter den Arm geklemmt. Schnell verläßt Heinrich sein Arbeitszimmer, zieht sich warm an und tritt in die kalte, klare Luft. Wolken jagen über den tiefblauen Himmel. Das Meer rauscht und tobt. Brandung, die ans Ufer schlägt.

    Rudi sucht seine Nähe, hakt sich bei ihm unter, lauscht eine Weile in den Wind und meint dann leise: »Ich könnte das stundenlang hören, den Klang des Windes und des Meeres. Das ist fast wie eine eigene Melodie. Das ist wunderbar!« Und nach einer Pause. »Mit Wera Knoop hab ich in Moskau manchmal dem Wind zugehört, und einmal hat sie sogar danach getanzt.« Er lacht etwas verlegen bei der Erinnerung daran. Und nach einer Pause ist er plötzlich wieder ganz nachdenklich und fragt ernst: »Meinst du, es geht ihr und ihrer Familie gut in München?«
    Heinrich wiegt nachdenklich den Kopf.
    »Die Eltern korrespondieren ja von Zeit zu Zeit mit uns, Rudjascha. Ich glaube, Wera ist sehr krank, aber ich weiß nichts Genaueres. Du kannst ihr ja ein paar Zeilen schreiben«, schlägt er vor. Sofort hellen sich Rudis Züge wieder auf. »Oh ja, das mache ich!« Heinrich fragt sich, was einmal aus diesem verträumten Kind werden wird. Ein sonderbarer Junge, ganz ohne jene Härte, die Erwin so sehr charakterisiert. Rudi wird immer seine Welt voller Ideale haben, an der er sich festhalten kann, aber

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