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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Erwin wird mit seiner Durchsetzungskraft vieles im Leben einfach an sich reißen und wird damit sicher geschäftlichen Erfolg haben, aber ob das ohne die Kraft der Intuition und der Emotion möglich sein wird, auf die der Älteste sich ja offenbar niemals verlassen will? Und Rudi wird von aller Welt geliebt, aber bestimmt auch ganz furchtbar ausgenutzt werden, wenn er nicht lernt, noch etwas mehr Geschäftssinn zu entwickeln und sich nicht nur von Gefühlen leiten zu lassen.
    Schnellen Schrittes gehen die Jungs voraus. Erwin als erster, wie immer. Geradeaus, wie er es ihm beigebracht hat. Keuchend und mit seinem Asthma kämpfend, aber er will als Ältester unbedingt der erste sein. Der kleine Johnny holt ihn ein, schiebt vertrauensvoll seine Hand in die des großen Bruders. Heinrich muß lächeln. Seine eigene Kindheit in Bremen scheint unendlich weit weg zu sein. Querelen und ständiger Kampf um Anerkennung von seinem älteren Bruder Wilhelm. Ein scheinbar ewiger Kreislauf des Lebens. Manchmal scheint es ihm fast unwirklich, daß er heute fünf Söhne hat und Verantwortung trägt - auch für deren Zukunft.
    Was Werner da vorhin über die »Roten« und Gerechtigkeit gesagt hat, geht ihm nicht aus dem Sinn. Er ruft ihn zu sich. Werner
bleibt stehen, klemmt den Drachen zwischen seine Knie, putzt sorgfältig seine angelaufene Brille.
    »Ja, Vater?« fragt er ernst.
    Heinrich sieht ihm nachdenklich in die Augen. »Sag mal: Was du da vorhin in meinem Arbeitszimmer gesagt hast. Über Rußland und die ›Roten‹ und Gerechtigkeit …«
    »Ja?«
    »Wie kommst du eigentlich darauf?«
    Werner sieht seinen Vater verständnislos an. »Na, das weiß ich noch von damals. Kropotkin hat das manchmal gesagt, und Nastasja auch. Und sogar Wera und ihre Eltern.«
    Rudi, der hinzugekommen ist, um den Drachen zu holen und den letzten Teil des Gesprächs mitgehört hat, nickt zustimmend. Offenbar sind da zwischen den Kindern, dem Personal und Freunden der Familie Gespräche geführt worden, von denen Heinrich nicht einmal etwas geahnt hat.
    »Und inzwischen hab ich viel darüber in den Zeitungen gelesen, und ich glaube, was die Roten sagen, ist gerecht«, meint Werner mit überzeugter Stimme.
    Heinrich wiegt nachdenklich den Kopf. »So einfach ist das nicht, mein Sohn. Wenn du möchtest, kann ich in den nächsten Tagen in einer ruhigen Stunde versuchen, dir das genauer zu erklären.«
    Werner nickt. »Oh ja, gern! Ich möchte alles darüber erfahren, und ich möchte, daß die Menschen gerecht und glücklich und ohne Krieg miteinander leben. Können wir jetzt den Drachen steigen lassen?«
    Heinrich lacht. »Natürlich, mein Junge!«
    »Aber du mußt die Leine halten! Du bist der stärkste!«
    »Klar!«
    Sofort zerrt der Drachen heftig an der Schnur und hebt sich in einem seltsam-bizarren Tanz immer höher und höher, einer Melodie folgend, die der Wind ihm vorgibt. Und Heinrich scheint es für Augenblicke beinahe unvorstellbar, daß überall in Europa Krieg tobt und seine Gegenwart nur eine kleine Insel des Friedens inmitten einer Katastrophe sein soll, die die Welt, an die er geglaubt, in der er gelebt hat, die er seinen Söhnen vermitteln wollte, vielleicht für immer zerrissen hat.

    »Papa, du mußt mehr Schnur nachgeben, dann steigt er noch viel höher«, fordert Werner begeistert und rückt seine Brille zurecht, und Heinrich ist wieder ganz zurück im Augenblick. Für diese halbe Stunde gibt es nur das Hier und Jetzt, so nimmt er sich vor und lauscht den durcheinanderwirbelnden Stimmen seiner Kinder, dem Tosen des Meeres, dem Pfeifen des Windes, der ihm manchmal, wenn er ganz genau hinhört, wie Rudi es vorhin getan hat, ganz leise vertraute Klänge mitzubringen scheint. Als würde irgendwo, in weiter Ferne, leise ein Fagott erklingen und ihm den richtigen Weg weisen.

24. KAPITEL
    München, 7. und Barendorf, 12. April 1968

»Ich kenne Sie irgendwoher …«
    »Guten Tag.« Der Taxifahrer am Münchener Flughafen sieht mich mit einem Blick an, der mich erkennt und doch nicht zuordnen kann.
    »Wo soll’s denn hingehen?« fragt er im Tonfall der Erwartung eines angeregten Gesprächs.
    »Nach Vaterstetten, Johann-Strauß-Straße 30«, antworte ich kurz und freundlich und würde mich eigentlich einfach nur im Taxi zurücklehnen und ein bißchen entspannen. Ich komme gerade aus London zurück, wo ich zur diesjährigen Eurovision eingeladen war. Eine schrecklich hektische Veranstaltung ohne große Höhepunkte. Das Siegerlied mit dem

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