Der Mann mit dem Fagott
äußerst intelligenten Titel »La, la, la« wird man in wenigen Wochen vergessen haben. Das Eurovisionsfestival scheint von Jahr zu Jahr an Qualität zu verlieren.
Seit Wochen war ich nicht mehr zu Hause, kann auch jetzt nur für zwei Tage bleiben, bevor ich wieder nach Paris zu einem Auftritt im legendären »Olympia« und von dort aus nach Amsterdam muß.
»Ich kenne Sie irgendwoher«, meint der Taxifahrer, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. So viele Jahre hatte ich jetzt schon Zeit, mich an solche Situationen zu gewöhnen, und immer noch sind sie mir unangenehm. Wenn ich jetzt meinen Namen nenne, wirkt es irgendwie aufdringlich, vielleicht sogar arrogant. Wenn ich es nicht tue, kann sich die unangenehme Situation quälend verzögern. Ich entscheide mich erst einmal für ein knappes und fragendes
»Ja?« und frage ihn, anstatt eine Antwort abzuwarten, ob das Wetter hier auch die ganze Zeit hindurch so schlecht gewesen sei. In tiefstem Bayerisch schimpft der Fahrer auf das Wetter, die Kälte, eine Art späte Rückkehr des Winters mit eisglatten Straßen, Kälte, Sturm statt eines beginnenden Frühlings, und ich hoffe, daß er seine Überlegung, woher er mich kennt, darüber vergessen hat.
Er stellt das Radio an. Nachrichten über den Vietnamkrieg und die sich dagegen wendenden Jugendunruhen auf deutschen Straßen und an deutschen Universitäten. Eine neue Jugend-Massenbewegung ist im Entstehen, die »Außerparlamentarische Opposition« - kurz »APO« genannt. Man entzündet sich an den gesellschaftlichen Strukturen, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland gebildet haben, an der Unbeweglichkeit der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Georg Kiesinger, aber man wendet sich auch massiv gegen die amerikanische Kriegstreiberei in Vietnam, die Selbstherrlichkeit der Amerikaner, die sich als Heilsbringer für die ganze Welt aufspielen - und dabei mit Bomben und chemischen Kampfstoffen gegen die Zivilbevölkerung vorgehen.
Mich macht das alles ratlos. Der Vietnamkrieg und die amerikanische Rolle dabei ist mir ebenso ein Greuel wie die Straßenkämpfe, die in Deutschland dagegen toben. Und mit einer Gruppierung, die jede bürgerliche Ordnung aus den Angeln zu heben versucht und sich Kommunendenken statt amerikanischer Erfolgsorientiertheit auf die Fahnen geschrieben hat, kann ich mich ohnehin nicht identifizieren.
Entnervt stellt der Taxifahrer das Radio aus. »Immer nur Vietnam und APO. Ich kann es nicht mehr hören. Chaotenpack …« Er schweigt verärgert.
Ich bin froh über die Stille.
»Aber irgendwoher kenne ich Sie«, insistiert der Taxifahrer murmelnd, als er sich wieder beruhigt hat. Ich schweige.
Die Fahrt führt am Stadtrand von München vorbei durch ländliches Gebiet, an Feldwegen und Waldrändern entlang. Seit ungefähr zehn Jahren lebe ich nun in dieser Stadt, bin immer wieder umgezogen. Von winzigen Dachkammern in den Jahren meines mühsamen Anfangs bis hin zum eigenen Haus in der Vorstadt, das ich jetzt mit Panja und den Kindern bewohne. Ein Gefühl von
»Seßhaftsein«, das in mir diffuse Assoziationen weckt: einerseits ein Ort der Ruhe und des Zuhauseseins, andererseits aber gleichzeitig spießiges Festgelegtsein, das mir irgendwie auch nicht entspricht.
Kinder lassen auf einer Wiese einen großen, bunten Drachen steigen. Sie haben Spaß am windig-kalten Wetter, und ich denke daran, daß ich eigentlich in diesen beiden Tagen, die ich zu Hause sein werde, mit meinem inzwischen vierjährigen Sohn Johnny auch einmal einen Drachen steigen lassen könnte, so, wie mein Vater das mit uns Söhnen manchmal gemacht hat, als wir Kinder waren und wie mein Großvater es mit seinen fünf Jungs immer wieder getan hat, wie mein Vater erzählt. Meine Tochter Jenny, die gerade im Januar ein Jahr alt geworden ist, ist natürlich noch viel zu klein dafür, aber zuschauen würde sie bestimmt auch gern. Ja, das mache ich. Ich werde mit Johnny einen Drachen bauen und ihn dann steigen lassen. Oder vielleicht sollte ich lieber einen von diesen Bausätzen kaufen, das entspricht dann doch eher meinem handwerklichen Talent. Vielleicht sind das Erinnerungen, die ihm bleiben werden, wenn er schon sonst nicht wirklich viel von seinem ständig abwesenden Vater hat. Und mir wird es auch Spaß machen, meine Seele dabei ein bißchen baumeln zu lassen.
Wiederauflebenlassen eigener Kindheitsmomente. Manchmal frage ich mich, ob ich dem Vatersein wirklich gewachsen bin. Ich habe keines meiner Kinder
Weitere Kostenlose Bücher