Der Mann mit dem Fagott
Johnnys Stimme.
»Ja, natürlich, mein Junge, und dann bekommst du einen ganz dicken Gutenachtkuß!«
»Das ist schön«, lacht Johnny. »Ich kann mir schon fast ganz allein die Zähne putzen!«
»Da bin ich aber stolz auf dich!«
»Duuu - Papa!«
»Ja?«
»Stimmt das, daß mein Ururgroßvater Kapitän war?«
Ich muß lächeln. »Ja, das stimmt.«
»Und der ist auf einem richtigen Boot gefahren?«
»Ja, auf einem ganz großen. Er hat viele, viele Menschen von Deutschland nach Amerika gebracht.«
»Das ist toll!« Und nach einer Pause. »Ich will auch Kapitän werden, wenn ich groß bin … Oder Musik machen wie du. Oder Kanalarbeiter sein, das wäre auch spannend.«
Ich muß lachen. Wo er das nur wieder her hat? Nebenher der unverwechselbare Gong der Tagesschau.
»Laß mich jetzt die Nachrichten schauen, und nachher reden wir darüber. Okay?«
»Okay.«
»Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.« Karl-Heinz Köpckes Stimme und das Ritual des Abends in unzähligen deutschen Haushalten. Ein Bericht über Massenunruhen in Amerika nach der Ermordung des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King vor drei Tagen, eine Nachricht über den Papst, der diese Tat als unmenschlich und barbarisch gebrandmarkt hat, Berichte über den Vietnam-Krieg. Diverse Kurzmeldungen, die ich schon im Moment des Hörens wieder vergesse.
Gerade will ich mir eine Zigarette anzünden, als ein Bild erscheint, das mich in einen tiefen Schock versetzt. Der Bruchteil einer Sekunde zwischen Erstarrung und dem eiskalten Schauer des Begreifens: Auf dem Bildschirm ein Photo von Onkel Werner - von einem schwarzen Balken umrahmt. In einem winzigen Augenblick fühle ich mich wie aus der Gegenwart geschleudert und gleichzeitig mit ungebremster Wucht in die Wirklichkeit gerissen. Den Bruchteil einer Sekunde lang hoffe ich auf einen Irrtum, einen Fehler der Graphik, doch gleichzeitig weiß ich, daß diese Hoffnung vergebens ist.
Ich höre die Stimme Karl-Heinz Köpckes wie aus weiter Ferne, der mit der Distanziertheit des Nachrichtensprechers meldet: »Werner Bockelmann, der Präsident des Deutschen Städtetages und ehemalige Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, ist
heute mittag im 61. Lebensjahr bei einem schweren Verkehrsunfall auf der Autobahn A 81 bei Leonberg ums Leben gekommen.« Sie berichten von einem tragischen Auffahrunfall bei schlechter Sicht. Offenbar ist Onkel Werner auf dem Weg von einer Tagung auf der Insel Mainau zurück nach Bensberg bei Köln gewesen, als ein anderer Wagen in seinen am Ende eines Staus raste. Onkel Werner wurde aus dem Auto geschleudert, jede Hilfe kam zu spät.
Wie betäubt nehme ich den Bericht wahr, den sie zu seiner Würdigung zeigen. Bilder, wie er vor fünf Jahren als Oberbürgermeister von Frankfurt den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Römer empfing, eine Würdigung seines Einsatzes für die deutsch-israelische Aussöhnung und dergleichen mehr. Dann geht man routiniert zum nächsten Thema über, einem Bericht über die Broadway-Premiere der neuen Fassung des Films »2001 - Odyssee im Weltraum« von Regisseur Stanley Kubrick, gefolgt von der Meldung über die spanische Sängerin Massiel und ihren Sieg bei der Eurovision in London. Ich nehme es wie aus weiter Ferne wahr, während die Zeit stillzustehen scheint. »Der belgische Radrennfahrer Eddy Merckx hat das Straßenrennen Paris - Roubaix gewonnen …«
Langsam beginne ich, das Unfaßbare zu begreifen. Onkel Werner, mein Paten- und Lieblingsonkel, eine der wichtigsten »Vaterfiguren« unter den fünf Brüdern, ist tot. Eine bösartige Fügung des Schicksals, unvorhersehbar, nicht zu verhindern, nicht rückgängig zu machen …
Natürlich hab ich gewußt, daß ich mich irgendwann mit Todesfällen in dieser Tragweite und Nähe würde auseinandersetzen müssen - aber doch nicht so ! Nicht so unvorbereitet und plötzlich!
Warum, um Himmels willen, muß ich es aus den Nachrichten erfahren? Weiß es mein Vater schon? Mein Vetter Andrej? Die anderen Onkel?
Alle Telefonleitungen besetzt: Ottmanach, Barendorf, Werners Familie.
Geistesabwesend blättere ich in meinem privaten Poststapel, um irgendetwas zu tun, während ich darauf warte, eine freie Leitung zu meiner Familie zu bekommen. Briefe von Freunden, Bekannten, Vorschläge von Textdichtern für mein nächstes Album, Einladungen zu gesellschaftlichen Ereignissen, Rechnungen. Ich nehme
es kaum zur Kenntnis. Und dann, inmitten des Stapels ein Umschlag, der
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