Der Mann mit dem Fagott
mich beinahe zurückweichen läßt. Eine Handschrift, die mir sofort vertraut ist, handgeschrieben auch der Absender: Werner Bockelmann, Bensberg. Einen Augenblick lang das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ein Moment lang Angst und Zögern, dann reiße ich mit zitternden Fingern den Umschlag auf.
Bensberg, 31. März 1968
Mein lieber Jürgen, in der letzten Zeit habe ich Dich sehr oft und mit großer Freude auf dem Bildschirm, aber schon viel zu lange nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen. Das sollte sich schleunigst ändern - oder kennst Du im wohlverdienten Rausch Deines Erfolges Deinen alten Patenonkel vielleicht gar nicht mehr? Seit ich nicht mehr in Amt und Würden als Frankfurter OB, sondern nur noch Präsident des Deutschen Städtetages bin, ist mein Terminplan viel lockerer geworden. (Deine Tante Rita beschwert sich übrigens schon darüber, daß ich nur noch zu Hause herumsitze; sie kann das Klicken der Patiencekarten nicht mehr hören …) Spaß beiseite: Ich muß in ein paar Tagen eine Rede bei einem Kongreß auf der Insel Mainau halten, danach feiere ich am 7. April mit Rita meinen Hochzeitstag zu Hause in Bensberg, das Osterwochenende werden wir bei Gert, Elke und Mutter in Barendorf verbringen, und im Anschluß daran möchte ich spontan ein Treffen mit meinen Söhnen und einigen meiner Neffen organisieren. Dazu würde ich Dich gern einladen! Was hältst Du davon, das Wochenende vom 18. bis 21. April mit meinen Söhnen Andrej und Thomas, Deinen beiden Brüdern und mir in meinem Ferienhaus im Allgäu zu verbringen?
Mich interessiert es auch sehr, was die nächste Generation über unsere Zeit denkt! Es wird mich auch für einen beruflichen Termin in Berlin, bei dem diese Fragen auf der Tagesordnung stehen, inspirieren. Es gibt also viel zu besprechen - und natürlich bei knisterndem Kaminfeuer das eine oder andere Glas zu leeren! Gib mir bitte rasch Bescheid.
Ich freue mich auf Dich, bis bald,
Dein Onkel Werner
»Papa, bist du traurig?« Johnny steht im viel zu großen Schlafanzug hinter mir, hält seinen Teddy im Arm und sieht mich unsicher an.
Ich nehme ihn auf meinen Schoß. »Ja, mein Junge, ich bin traurig. Aber das hat nichts mit dir zu tun.« Er nickt ernst. »Und weißt du, was wir morgen machen?«
Ich setze mein erwartungsfrohstes Lächeln auf.
Gespannt sieht er mich an. »Nein. Was denn?«
»Wir lassen morgen einen Drachen steigen.«
Der Kleine strahlt mich an. »Au ja, das ist toll! Einen richtig großen, bunten!«
»Genau.« Ich versuche, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
»Und den lassen wir dann ganz, ganz hoch fliegen - weit in den Himmel. Bis zum Mond und noch viel höher, so hoch es geht?«
»Ja.«
»Wer Wind sät, wird Sturm ernten«
Barendorf, 12. April 1968. Stille. Sternklarer Abend. Karfreitag. Es ist immer noch viel zu kalt für den Frühling. Ein Blumenmeer auf dem noch offenen Grab. Kerzenschein in der Dunkelheit. Kränze, Gedenkschleifen in sprach- und hilfloser Trauer. Wie soll man in fünf bis zehn Wörtern zusammenfassen, was einem ein Mensch bedeutet hat? Selbst der Grabstein steht noch nicht. Ein provisorisches Holzkreuz mit einem Namen und zwei Daten: Werner Bockelmann, 25. 9. 1907 bis 7. 4. 1968. Daneben das Grab seines erstgeborenen Sohnes Mischa mit bereits leicht verwittertem Stein: 7. 1. 1939 - 19. 3. 1946. Werner hat ihn um zweiundzwanzig Jahre überlebt.
Schweigend stehe ich mit meinem Vater auf dem Barendorfer Friedhof. Die Beerdigung ist längst vorbei, auch das obligatorische Essen, der Leichenschmaus in der Barendorfer Villa. Meine Verwandten sitzen noch im Salon zusammen, die Politiker sind abgereist.
Es herrschte hektische Aufgeregtheit: Gestern abend ist in Berlin auf Rudi Dutschke, einen der führenden Köpfe der »APO«, geschossen worden. Ein Attentat. Man hat den Täter festgenommen, aber ob eine Verschwörung dahintersteckt, weiß man noch nicht. Ob Rudi Dutschke überleben wird, darüber wagt niemand eine Prognose. Nun gibt es in vielen deutschen Großstädten Demonstrationen und Unruhen durch seine Anhänger. Die Situation zwischen der Staatsgewalt und den zum Kampf bereiten Sympathisanten der APO droht immer mehr zu eskalieren. Manche fürchten gar einen Bürgerkrieg. Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt, der mit Werner Zeit seines politischen Lebens eng befreundet gewesen war, mußte in Berlin bleiben - für alle Fälle. Er hat einen Kranz geschickt, ein paar Zeilen des Beileids und Mitgefühls an seine
Weitere Kostenlose Bücher