Der Mann mit dem Fagott
ich kann es verstehen. Das Mädchen sieht erschrocken dem Ball hinterher, dann tritt es wütend gegen die Mauer, wirft den Schläger zu Boden und läßt sich resigniert auf den schmalen, ungepflegten Wiesenstreifen sinken, der der Mauer ein etwas freundlicheres Gesicht verleihen soll. Das Mädchen lehnt sich an die Mauer an, als sei sie irgendeine Wand, während das Taxi mit meinen Eltern in die Köthener Straße einbiegt.
Ich helfe meinem Vater beim Aussteigen. Er stützt sich auf mich, und ich spüre seinen mageren, unbeweglich gewordenen Körper, doch seine Augen leuchten. »Ach, ist das schön, hier zu sein! Dieser Kurfürstendamm und das Hotel Kempinski, das ist ja ein Traum! So etwas habe ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen.« Er strahlt, sieht sich um. »Aber die Gegensätze sind ja einfach unfaßbar. Die Gegend hier, da meint man ja fast, man sei in einer ganz anderen Stadt, einem ganz anderen Land. Und das ist sie also - die Mauer …«
Er hält inne, fast als überlege er, ob man sich ihr nähern solle, ob man den Irrsinn besser begreife, wenn man sie berührt.
Wir setzen uns an einen der drei winzigen Tische auf der Straße vor dem kleinen, schmucklosen Café im Haus des Hansa-Studios.
»Was ist denn das eigentlich für ein Platz?« Meine Mutter umfaßt mit ihrem Blick interessiert den Potsdamer Platz gegenüber. »Hier sieht’s ja aus, als sei der Krieg gerade erst seit ein paar Wochen vorbei.«
»Das ist der Potsdamer Platz«, erkläre ich.
»Der POTSDAMER PLATZ!« wiederholt meine Mutter ungläubig. Das gibt’s doch gar nicht. Dann muß da ja irgendwo das Haus Vaterland gestanden haben!« Meine Eltern sehen fragend auf den Schuttplatz gegenüber, versuchen sich zu orientieren.
Mein Vater nickt nachdenklich, sucht mit seinen Augen die Gegend ab. »Wenn wir aus dem ›Meistersaal‹ kamen, sind wir immer nur schräg über die Straße gegangen und waren dort. Ja, so war’s. Dann muß das da drüben …« - er zeigt mit seinem Arm die Richtung - »dieser Schutthaufen, das muß dann ja das Haus Vaterland gewesen sein.« Er macht eine nachdenkliche Pause. »Dann liegen da drüben die Träume unserer Jugend begraben.« Mein Vater sagt es mit ruhiger Stimme und hält einige Augenblicke lang betroffen inne. »Aber die Zeit steht eben nicht still, und Träume überleben sich.«
Meine Mutter nimmt seine Hand.
»Aber wir haben unsere Erinnerungen, und die kann uns keiner nehmen. Und die Gegenwart auch nicht«, meint sie ruhig, und wie es ihre Art ist, findet sie schnell in die Realität zurück. »Also, Rudjascha, bestelle mir doch bitte einen Kaffee und ein schönes Stück Kuchen. Und ein Weinbrand wäre auch nicht schlecht!«
Die Männer auf dem Wachtturm schwenken mit langsamen Bewegungen die Gegend ab, verharren, die Ferngläser auf unseren Tisch gerichtet.
»Sag mal, Rudjascha, beobachten die uns?« Meine Mutter sieht meinen Vater irritiert an und weist auf die Soldaten auf ihrem Turm.
Mein Vater folgt ihrem Blick und zuckt mit den Schultern. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«
Skeptisch sieht meine Mutter immer wieder in die Richtung des Turmes, während die Kellnerin uns Kaffee, Kuchen und Weinbrand und für meinen Vater ein Glas Rotwein bringt.
Die Ferngläser der Grenzbeamten schwenken die Gegend ab, verweilen dann wieder auf uns.
»Die beobachten uns ganz eindeutig!« Sie sieht mich fragend an.
Ich versuche, ihr die schwer zu begreifende Wirklichkeit dieser Stadt zu erklären. »Das hat nichts zu bedeuten. Die beobachten immer alles hier, aber das darfst du nicht persönlich nehmen, das ist ihr Job.«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Was ist das nur für eine Welt?«
Sie macht eine lange, nachdenkliche Pause und meint dann ernst: »Da wird einem so richtig bewußt, an was für einem unglaublichen Punkt der Welt wir hier sitzen. Wir sprechen von einem geeinten Europa, und was haben wir? Ein zerrissenes Deutschland, auf dessen Boden Atomwaffen aufeinander gerichtet sind. Das muß man sich einmal vorstellen!«
Sie nimmt einen Schluck von ihrem Weinbrand. Starr sind zwei Fernrohre auf uns gerichtet.
»Wißt ihr was, ich glaube, ich winke jetzt mal rüber!« erklärt meine Mutter, plötzlich entschlossen, dieser Szene irgendeinen versöhnlichen Abschluß zu geben.
»Das bringt doch nichts«, meint mein Vater kopfschüttelnd doch da hebt meine Mutter bereits ihren Arm, lächelt und winkt den Grenzsoldaten zu.
Augenblicke vergehen. Beide Ferngläser sind auf
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