Der Mann mit dem Fagott
unendlich wichtig für mich war. Was würde es ihm bedeuten, diese Stunden hier, in der Berliner Philharmonie, miterleben zu können, an jenem Ort, an dem die Familie mich immer so gern gesehen hätte. Was werden meine Eltern gleich denken und empfinden, wenn ich diese Bühne betrete und gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern spiele?
Nebenan der Klang einer Oboe, die eingespielt wird. Dazu mischen sich eine Klarinette, ein Horn und ein Fagott in seltsam atonalen und doch faszinierenden Phrasen. Gleich werden sie meine Musik spielen, ein Tagtraum, den ich als Junge immer wieder hatte: meine Melodien von einem großartigen Orchester gespielt und zum Leben erweckt.
Noch zehn Minuten. Das Fagott tritt aus allen Klängen für mich ganz besonders hervor. Ich denke an meinen Großvater und seinen »Mann mit dem Fagott« und wie die Lebenswege dieser Männer sich kaum wirklich gekreuzt und doch in entscheidenden Momenten als glückliche Fügungen des Schicksals befruchtet haben. Hoffentlich wird das Fagott mir heute ebenfalls Glück bringen.
Noch fünf Minuten. Die Musiker begeben sich auf die Bühne, die Oboe gibt das A vor, die Musiker beginnen, ihre Instrumente zu stimmen. Der herrliche, unverwechselbare Klang eines sich vorbereitenden Orchesters. Streicher, Bläser, die Pauke mit ihrem dumpfen, magischen Ton. Nervös gehe ich hinter der Bühne auf und ab. Durch einen schmalen Spalt kann ich meine Eltern sehen, ganz allein in diesem riesigen, amphitheaterähnlichen menschenleeren Zuschauerraum, fast verloren irgendwo in der achten Reihe. Sie halten sich an den Händen, sehen fasziniert dem Geschehen auf der Bühne zu, ahnen vielleicht schon, was hier gleich vor sich gehen wird. Meine Hände zittern.
Der Orchestervorstand betritt das Podium, das Orchester verstummt. »Meine Herren, wie Sie wissen, steht heute eine Schallplattenaufnahme auf dem Programm. Es handelt sich um eine Komposition von Udo Jürgens, den ich hiermit herzlich begrüßen möchte.«
Ich betrete die Bühne, die Streicher klopfen mit ihren Bogen auf
die Pulte oder auf den Geigenboden, um mich zu begrüßen. Ich schüttle dem Konzertmeister die Hand.
»Meine Herren, meine Dame.« Bei letzterem Wort drehe ich mich halb um und wende den Blick an meine Mutter, die einzige Frau im Raum, sehe ihren ungläubigen Blick. »Ich freue mich sehr über diese einmalige und ungewöhnliche Chance, mit diesem großartigen Orchester musizieren zu dürfen. Wie Sie wissen, werden wir ein Stück von mir aufnehmen. Es ist eine Komposition von etwa neun Minuten Dauer und trägt den Titel ›Wort‹. Die beiden Gesangspassagen dauern zusammen etwa drei Minuten, sechs Minuten bestehen aus Orchester- und Klavierparts. Neben diesen Stellen, die wir heute aufnehmen werden und meinem Klavier werden darin auch einige moderne Instrumente wie E-Gitarre und Schlagzeug zu hören sein, die wir im Vorfeld bereits aufgenommen haben. Es ist ein Versuch, die üblichen Grenzen zwischen sogenannter ernster und Unterhaltungsmusik ein wenig niedriger zu halten als es sonst üblich ist. Das Stück enthält keine großen technischen Schwierigkeiten, wie Sie ja am Notenbild sehen können, abgesehen vielleicht von einer etwas kniffligen Stelle im Mittelteil, die im ungewöhnlichen ⅞-Takt geschrieben ist. Wie Sie wissen, haben wir nur drei Stunden Zeit, also schlage ich vor, wir fangen sofort an. Ich darf Ihnen den Arrangeur des Stückes vorstellen, der heute auch dirigieren wird: Uli Roever. Ich selbst werde den Klavierpart spielen. Und die beiden Herrschaften im Publikum sind übrigens meine Eltern, die ich mit dieser heutigen Aufnahme überraschen und ihnen zur Goldenen Hochzeit das Geschenk machen wollte, ihr Lieblingsorchester hautnah zu erleben.«
Wieder klopfen die Musiker mit ihren Bögen auf die Pulte und Geigenböden. Meine Eltern halten sich fest an den Händen.
Ich wende mich wieder dem Orchester zu: »Wenn Sie bereit sind, lassen Sie uns bitte beginnen. Die ersten acht Takte bis zum Streichereinsatz sind ein Klaviersolo.«
Ich beginne zu spielen und merke nach den ersten Tönen, daß meine Hände ganz ruhig werden. Acht Takte lang nur ich und mein Klavier, acht Takte lang Zeit, um mich selbst zu finden. Dann der erste warme Streicherklang in G-Moll, der mich umfängt und mir das Gefühl gibt, in eine vollkommene Welt einzutauchen. Ich fühle mich unverwundbar und doch verletzlich wie nie. Ich schwebe.
Meine Eltern mit leuchtenden Augen auf ihren Plätzen. Schon beim ersten
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